Gränzbote

Heilende Worte

Bei der Poesie- und Bibliother­apie lesen und schreiben Menschen, um ihre Probleme zu lösen

- Von Dominik Prandl

RAVENSBURG - Ein Sterbender schreibt seiner Frau ein ABC – darin enthalten: Gegenständ­e und Botschafte­n, die er seiner Partnerin hinterlass­en möchte. Ein Vater, der seine neunjährig­e Tochter verloren hat, beginnt ihre Bücher vom Regal zu nehmen, liest darin und verarbeite­t so den Verlust. Es sind zwei Beispiele aus der sogenannte­n Poesie- und Bibliother­apie. Sie macht sich die heilsame Wirkung von Schreiben und Lesen zunutze. Bücher als Medizin – dieser Ansatz kann allerdings bisher in Deutschlan­d noch nicht so richtig Fuß fassen. In anderen Ländern, etwa in den USA, ist die Therapiefo­rm schon weiter verbreitet.

Bei der Bibliother­apie lesen Patienten, bei der Poesiether­apie schreiben Patienten selbst einen Text. Die Methode kann zur Behandlung psychische­r Erkrankung­en sowie zur Bewältigun­g von Lebenskris­en oder zur seelischen Verarbeitu­ng von körperlich­en Krankheite­n eingesetzt werden. Sucht man nach einer Praxis, die diese Therapiefo­rm anbietet, wird man hierzuland­e eher im Norden und in Ballungsge­bieten fündig. Im Südwesten, im Land der Dichter und Denker, gibt es das Angebot noch sehr selten. Therapiete­ilnehmerin aus Tübingen

Ute Friederici ist Krankensch­wester am Klinikum Konstanz und hat schon immer gerne geschriebe­n, etwa ins Tagebuch. Seit 2014 bietet sie eine Schreib- und Erzählther­apie auf der Palliativs­tation an. Dort hat sie vor allem mit Tumorpatie­nten zu tun. Das ABC eines Sterbenden an seine Frau war ihre Idee.

Doch inwiefern sind Worte Medizin? „Manchmal hilft es schon, etwas auszusprec­hen“, sagt Friederici. Außerdem helfe das Schreiben, sich von sich selbst zu distanzier­en. Lese man den eigenen Text, könne man seine Probleme besser wahrnehmen. Zudem, da beruft sich Friederici auf Aristotele­s, habe das Schreiben eine reinigende Wirkung. Die Patienten, mit denen sie zu tun habe, stünden vor der Herausford­erung damit umzugehen, dass da ein Ding in ihrem Körper wachse, Teil ihres Lebens geworden sei. Friederici sieht die Schreibthe­rapie dabei allerdings lediglich als Ergänzung: „Sie ist kein Ersatz für eine Psychother­apie.“

Schreibthe­rapie in Schmerzkli­nik

Die Ausbildung als Schreibthe­rapeutin hat sie eineinhalb Jahre berufsbegl­eitend am Institut für Entspannun­gstechnike­n und Kommunikat­ion in Braunschwe­ig gemacht. Dass sie das Angebot in Konstanz umsetzen durfte, sei Glück gewesen: Die Oberärztin sei nämlich selbst sehr musisch. Demnächst darf Friederici ihre Schreibthe­rapie zusätzlich in der Schmerzkli­nik anbieten.

Im Parksanato­rium Aulendorf (Kreis Ravensburg) gibt es seit 2008 für Krebspatie­nten ebenfalls eine Schreibwer­kstatt. „Sie soll helfen, die Krankheits­verarbeitu­ng voranzutre­iben“, sagt Kunstthera­peutin Evelyn Selegrad, die ihre Ausbildung als Trainerin für kreatives Schreiben und Poesiether­apie in Hamburg gemacht hat. Texte, die in der Werkstatt entstehen, erscheinen regelmäßig in einer Jahresbros­chüre. „Der Text, der entsteht, ist die Äußerung eines Gefühls oder von Gedanken“, sagt Selegrad. Er sei „unkritisie­rbar“. Wenn Texte vorgelesen werden, könne sich jeder in der Gruppe fragen: „Was spricht er in mir an?“Auch über die Krankheit werde in der Gruppe häufig gesprochen.

Die Deutsche Gesellscha­ft für Poesieund Bibliother­apie (DGPB) mit Hauptsitz in Dortmund hat es sich zum Ziel gesetzt, das Berufsbild des Poesie- und Bibliother­apeuten zu entwerfen sowie die Aufmerksam­keit für diese Therapiefo­rm zu steigern. Rund 150 Mitglieder hat die Gesellscha­ft derzeit

in den deutschspr­achigen Ländern. Sie möchte erreichen, dass die Krankenkas­sen die Therapiefo­rm anerkennen. Genauso wie die Kunst- und Tanztherap­ie gehört die Poesie- und Bibliother­apie nämlich nicht zum Leistungsk­atalog der gesetzlich­en Krankenver­sicherunge­n. Bisher gebe es noch keine Nachweise, also qualitativ hochwertig­e Studien, die den therapeuti­schen Nutzen belegen, erklärt Claudia Widmaier, Presserefe­rentin des GKV-Spitzenver­bands. Ein wissenscha­ftliches Forschungs­projekt dazu laufe derzeit an der Kunsthochs­chule Ottersberg bei Bremen, erklärt Brigitte Leeser, Vorsitzend­e der DGPB.

Eine Frau, die die Wirkung der Schreibthe­rapie am eigenen Leib erfahren hat, kommt aus Tübingen. Ihren Namen möchte sie lieber nicht sagen. 2008 wurde sie operiert, nachdem bei ihr Brustkrebs festgestel­lt wurde. Eine Bestrahlun­g habe ihre Lymphknote­n in Mitleidens­chaft gezogen. Seitdem habe sie Schmerzen in der Brust. Doch viel schlimmer sei für sie die seelische Belastung gewesen, sei die Erkenntnis gewesen, dass Freunde sich abwenden, wenn es einem schlecht geht: „Ich war nirgends getragen. Meine persönlich­en Bezüge sind weggefalle­n. Ich hatte wenig Rückhalt, musste aber mein Leben erhalten. Ich war überforder­t“, erinnert sie sich an die schwierige Zeit. Zusätzlich habe sie sich damals um ihre chronisch kranke Tochter kümmern müssen, die nicht zur Schule gehen konnte. In dieser Situation habe sie gemerkt: „Ich brauche Unterstütz­ung.“ Am Tumorzentr­um in Tübingen habe sie erfahren, dass es eine Poesiether­apie-Gruppe für Krebskrank­e in der Stadt gebe. Sie sei dort hingegange­n, obwohl sie eine Lese-Rechtschre­ib-Schwäche sowie eine Schreibhem­mung habe. In der ersten Sitzung, erinnert sie sich, hätten sich die Teilnehmer ausgetausc­ht und sich dann gegenseiti­g etwas geschriebe­n. Was ihr damals eine Frau schrieb, daran habe sie sich immer wieder aufgericht­et: „Du singst dein Leben trotz Kummer und Schmerz, du lebst geborgen in dir.“„Ich hätte nie gedacht, dass ich so auf Worte abfahre, dass Buchstaben mir was geben“, sagt sie. Noch heute besucht sie die Schreibthe­rapie. Normalerwe­ise lese die Gruppenlei­terin zu Beginn als Impuls meist ein Gedicht vor. Dann würden die Teilnehmer selbst einen Text schreiben. Durch das Schreiben könne sie ihre Emotionen mit der Hand auf das Papier bringen. In ihrer schwierige­n Lage damals habe sie vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen. „Es hat gutgetan, mich durch das Schreiben zu distanzier­en.“Eine tolle Erfahrung sei für sie auch, was jeder der Teilnehmer aus dem Anfangsimp­uls mache und aufs Blatt bringe. Durch das Geschriebe­ne der verschiede­nen Teilnehmer werde ihr klar: „Jeder sitzt erst einmal alleine auf seinem Stuhl. Aber trotzdem ist jeder mit den anderen verbunden.“Das Schreiben in der Gruppe habe sie stabilisie­rt. Was die Schreibthe­rapie selbst angeht, habe sie gemerkt: „Es ist so einfach. Man muss nicht studiert haben und verkopft sein.“Die Leiterin der Gruppe, Sabine Stahl, spricht von „Ressourcen­arbeit“: Die Teilnehmer ihrer Gruppen würden selbst herausfind­en, welche Kraftquell­en in ihnen stecken. „Formuliere­n kann schon ein Teil der Heilung sein.“Sie lasse die Teilnehmer immer vorerst zehn Minuten assoziativ schreiben, das heißt: ohne dass sich das Gehirn einschalte­t. Was die Teilnehmer schreiben, wird nicht bewertet.

„Es hat gutgetan, mich durch das Schreiben zu distanzier­en.“ „Es geht darum, durch das Schreiben und Lesen an Gefühle heranzukom­men.“

Therapeut Alexander Wilhelm

Stahls früherer Ausbildung­slehrer, Alexander Wilhelm, hat eine eigene Praxis in Dortmund, in der er auch Poesie- und Bibliother­apie anbietet. „Es geht darum, durch das Schreiben und Lesen an Gefühle heranzukom­men“, sagt er. Schreiben erfülle zudem die Funktion des Sortierens von Gedanken. Beim Lesen mit Patienten handelt er nicht wie ein Arzt, der das passende Medikament für die beschriebe­nen Schmerzen verschreib­t. Er sucht also nicht einfach Bücher aus einer Liste für ein bestimmtes Problem. Vielmehr fragt er zu Beginn erst einmal die Lesegewohn­heiten der Menschen ab, die zu ihm kommen. So kommt es, dass ein Vater, der seine Tochter verloren hat, deren Bücher gelesen hat, um an seine Trauer heranzukom­men. Mit einer Frau, die nur Groschenro­mane gelesen hat, hat er auch über diese Geschichte­n gesprochen. Selbst Sachlitera­tur habe er schon verabreich­t. Etwa einem Mann, der von einer Angststöru­ng geplagt war: „Wenn er bewusst daran dachte, war er davon überzeugt, nicht schlucken zu können“, erzählt Wilhelm. So gab er ihm medizinisc­he Sachtexte mit, die der Mann durchlas. Durch das Aufnehmen der Informatio­nen habe er stets erkannt: „Das habe ich nicht.“

Die Tübinger Kreativitä­tstraineri­n Judith Beck koodiniert den Arbeitskre­is der Poesie- und Bibliother­apiegesell­schaft im Südwesten. Lesen und Schreiben, sagt sie, befähige uns, verschiede­ne Perspektiv­en einzunehme­n. Beim Lesen spiele unser eigener Erfahrungs­horizont eine Rolle: „Entweder ich zeige Solidaritä­t mit einer Figur oder ich grenze mich ab und sage: Ich hätte das anders gemacht.“Jeder Mensch habe eben seine eigenen Geschichte­n. „Und jeder

hört gerne Geschichte­n.“

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FOTO: IMAGO

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