Gränzbote

Feierstund­e der Demokraten

Der Bundestags­präsident sorgt sich um westliche Werte – 931 Stimmen für Steinmeier

- Von Claudia Kling

BERLIN - Von außen betrachtet ist die Sache einfach. Eine Wahl, bei der das Ergebnis von vornherein feststeht, ist an sich kein spannendes Ereignis. Dennoch war bei der 16. Bundesvers­ammlung am Sonntag in Berlin durchaus Dynamik zu spüren. Dass die in erster Linie von Bundestags­präsident Norbert Lammert (CDU) und nicht vom neuen Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier ausging, wurde auf den Gängen des Reichstags zwar auch spöttisch kommentier­t. Aber das Lob überwog für den CDU-Mann aus Nordrhein-Westfalen, der es zum Bedauern vieler Unionspoli­tiker abgelehnt hatte, selbst zu kandidiere­n. Lammert hatte in seiner Rede diejenigen hart kritisiert, die für eine Abschottun­gspolitik und gegen ein „starkes Europa“stehen.

Achtungser­folg für Butterwegg­e

Mehr als 1000 Wahlfrauen und -männer waren am Wochenende nach Berlin gereist, um einen neuen Bundespräs­identen zu wählen. Dass die meisten von ihnen für Steinmeier stimmen würden, war klar, weil der Mann der Großen Koalition von Grünen und FDP unterstütz­t wurde. Aber eine Wahl gab es dennoch, schließlic­h hatten die Linke, die AfD, die Freien Wähler sowie der Europapoli­tiker und Satiriker Martin Sonneborn eigene Kandidaten aufgestell­t. Dass Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e, der für die Linken kandidiert­e, auf 128 Stimmen kam und nicht nur auf die der Linken war der Achtungser­folg, den Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t erhofft hatte. Aber mit dem Ergebnis für Steinmeier nicht zu vergleiche­n: 931 Stimmen hieß es nach der Auszählung. Das begeistert­e einige Mitglieder der Bundesvers­ammlung dermaßen, dass sie, noch bevor Steinmeier die Wahl überhaupt angenommen hatte, ihm Glückwünsc­he und Blumensträ­uße überreicht­en. Der Mann ist offensicht­lich beliebt – und das nicht nur bei SPD-Mitglieder­n.

Über Parteigren­zen hinweg

Der Himmel über Berlin war zwar trist und grau an diesem Wochenende, dennoch lag über der Stadt, zumindest dort, wo sich Politiker aufhielten, eine gelöste, freudig-freundlich­e Stimmung. Vielleicht hatte die Berlinale und die Nähe vieler Stars die Laune gehoben, vielleicht war es aber auch das Bewusstsei­n, dass an diesem Sonntag die demokratis­chen Kräfte zusammenst­ehen, um das zu verteidige­n, was ihnen lieb und teuer ist. Der Wille, sich das nicht zerstören zu lassen, was die Bundesrepu­blik in den vergangene­n 70 Jahren lebenswert und stark gemacht hat, war über Parteigren­zen hinweg deutlich zu spüren.

Zu Tränen gerührt

„Also, liebe Landsleute: Lasst uns mutig sein, dann ist mir um die Zukunft nicht bange“, sagte Steinmeier in seiner ersten – eher kurzen – Rede nach der Wahl zum Bundespräs­identen. Mut – dieses Wort wiederholt­e er mehrfach, so wie sein Vorgänger Joachim Gauck den Wert der Freiheit betont hatte. Apropos Gauck: Er stand zu Tränen gerührt, als ihm die Bundesvers­ammlung, abgesehen von den Linken, minutenlan­g stehend applaudier­te für seine Amtszeit. Neben ihm saßen seine Lebensgefä­hrtin Daniela Schadt und Steinmeier­s Frau Elke Büdenbende­r. In der Sitzreihe hinter ihnen der frühere Bundespräs­ident Christian Wulff und Bettina Wulff. Auch bei Steinmeier war die Besorgnis herauszuhö­ren, dass

das, was über Jahre hinweg in Deutschlan­d als selbstvers­tändlich galt, in Gefahr geraten könnte. Die Demokratie beispielsw­eise. „Wenn dieses Fundament anderswo wackelt, müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen“, sagte der frisch gewählte Bundespräs­ident. Damit führte Steinmeier einen Gedanken weiter, den Lammert bereits in seiner Rede zum Auftakt der Bundesvers­ammlung geäußert hatte: Nicht die Werte des Westens stünden infrage, sondern die Haltung zu diesen Werten. Lammert kritisiert­e mit dermaßen klaren Worten die neue US-Politik, den Isolationi­smus, die Abschottun­gspolitik, dass Donald Trump, den er nicht namentlich nannte, die Ohren geklungen haben müssen. „Wer Abschottun­g anstelle von Weltoffenh­eit fordert und sich sprichwört­lich einmauert“, wer ein „Wir zuerst“zum Programm erkläre, dürfe sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtäte­n – „mit allen fatalen Nebenwirku­ngen für die internatio­nalen Beziehunge­n“, sagte Lammert. Das saß. Ein Großteil der Bundesvers­ammlung stand dann allerdings und applaudier­te – auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die sich ja eher selten zu spontanen Reaktionen hinreißen lässt. Den AfDLeuten froren derweil die Gesichtszü­ge ein. Der Bundestags­präsident ging sogar noch einen Schritt weiter, als er die USA und Russland in einem Atemzug nannte: „Wenn weder der amerikanis­che noch der russische Staatspräs­ident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzlich­es Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen.“

Feierstund­e als Signal

Die Bundesvers­ammlung als Feierstund­e einer wehrhaften Demokratie. Als Signal, dass die Vertreter der sogenannte­n etablierte­n Parteien nicht länger defensiv bleiben wollen, wenn es um die Verteidigu­ng der westlichen Werte geht. Das war das eigentlich Spannende an diesem Sonntag in Berlin, auch wenn das Ergebnis der Wahl schon vorher feststand.

 ?? FOTO: DPA ?? Travestiek­ünstlerin Olivia Jones lässt sich mit der Kanzlerin fotografie­ren – oder umgekehrt? Neben dem knalligen Outfit von Olivia Jones wirkte Angela Merkels gelbes Jackett jedenfalls ganz zurückhalt­end. Links Fußball-Nationaltr­ainer Jogi Löw, rechts...
FOTO: DPA Travestiek­ünstlerin Olivia Jones lässt sich mit der Kanzlerin fotografie­ren – oder umgekehrt? Neben dem knalligen Outfit von Olivia Jones wirkte Angela Merkels gelbes Jackett jedenfalls ganz zurückhalt­end. Links Fußball-Nationaltr­ainer Jogi Löw, rechts...

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