Feierstunde der Demokraten
Der Bundestagspräsident sorgt sich um westliche Werte – 931 Stimmen für Steinmeier
BERLIN - Von außen betrachtet ist die Sache einfach. Eine Wahl, bei der das Ergebnis von vornherein feststeht, ist an sich kein spannendes Ereignis. Dennoch war bei der 16. Bundesversammlung am Sonntag in Berlin durchaus Dynamik zu spüren. Dass die in erster Linie von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und nicht vom neuen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ausging, wurde auf den Gängen des Reichstags zwar auch spöttisch kommentiert. Aber das Lob überwog für den CDU-Mann aus Nordrhein-Westfalen, der es zum Bedauern vieler Unionspolitiker abgelehnt hatte, selbst zu kandidieren. Lammert hatte in seiner Rede diejenigen hart kritisiert, die für eine Abschottungspolitik und gegen ein „starkes Europa“stehen.
Achtungserfolg für Butterwegge
Mehr als 1000 Wahlfrauen und -männer waren am Wochenende nach Berlin gereist, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Dass die meisten von ihnen für Steinmeier stimmen würden, war klar, weil der Mann der Großen Koalition von Grünen und FDP unterstützt wurde. Aber eine Wahl gab es dennoch, schließlich hatten die Linke, die AfD, die Freien Wähler sowie der Europapolitiker und Satiriker Martin Sonneborn eigene Kandidaten aufgestellt. Dass Armutsforscher Christoph Butterwegge, der für die Linken kandidierte, auf 128 Stimmen kam und nicht nur auf die der Linken war der Achtungserfolg, den Fraktionschefin Sahra Wagenknecht erhofft hatte. Aber mit dem Ergebnis für Steinmeier nicht zu vergleichen: 931 Stimmen hieß es nach der Auszählung. Das begeisterte einige Mitglieder der Bundesversammlung dermaßen, dass sie, noch bevor Steinmeier die Wahl überhaupt angenommen hatte, ihm Glückwünsche und Blumensträuße überreichten. Der Mann ist offensichtlich beliebt – und das nicht nur bei SPD-Mitgliedern.
Über Parteigrenzen hinweg
Der Himmel über Berlin war zwar trist und grau an diesem Wochenende, dennoch lag über der Stadt, zumindest dort, wo sich Politiker aufhielten, eine gelöste, freudig-freundliche Stimmung. Vielleicht hatte die Berlinale und die Nähe vieler Stars die Laune gehoben, vielleicht war es aber auch das Bewusstsein, dass an diesem Sonntag die demokratischen Kräfte zusammenstehen, um das zu verteidigen, was ihnen lieb und teuer ist. Der Wille, sich das nicht zerstören zu lassen, was die Bundesrepublik in den vergangenen 70 Jahren lebenswert und stark gemacht hat, war über Parteigrenzen hinweg deutlich zu spüren.
Zu Tränen gerührt
„Also, liebe Landsleute: Lasst uns mutig sein, dann ist mir um die Zukunft nicht bange“, sagte Steinmeier in seiner ersten – eher kurzen – Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten. Mut – dieses Wort wiederholte er mehrfach, so wie sein Vorgänger Joachim Gauck den Wert der Freiheit betont hatte. Apropos Gauck: Er stand zu Tränen gerührt, als ihm die Bundesversammlung, abgesehen von den Linken, minutenlang stehend applaudierte für seine Amtszeit. Neben ihm saßen seine Lebensgefährtin Daniela Schadt und Steinmeiers Frau Elke Büdenbender. In der Sitzreihe hinter ihnen der frühere Bundespräsident Christian Wulff und Bettina Wulff. Auch bei Steinmeier war die Besorgnis herauszuhören, dass
das, was über Jahre hinweg in Deutschland als selbstverständlich galt, in Gefahr geraten könnte. Die Demokratie beispielsweise. „Wenn dieses Fundament anderswo wackelt, müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen“, sagte der frisch gewählte Bundespräsident. Damit führte Steinmeier einen Gedanken weiter, den Lammert bereits in seiner Rede zum Auftakt der Bundesversammlung geäußert hatte: Nicht die Werte des Westens stünden infrage, sondern die Haltung zu diesen Werten. Lammert kritisierte mit dermaßen klaren Worten die neue US-Politik, den Isolationismus, die Abschottungspolitik, dass Donald Trump, den er nicht namentlich nannte, die Ohren geklungen haben müssen. „Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert und sich sprichwörtlich einmauert“, wer ein „Wir zuerst“zum Programm erkläre, dürfe sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtäten – „mit allen fatalen Nebenwirkungen für die internationalen Beziehungen“, sagte Lammert. Das saß. Ein Großteil der Bundesversammlung stand dann allerdings und applaudierte – auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich ja eher selten zu spontanen Reaktionen hinreißen lässt. Den AfDLeuten froren derweil die Gesichtszüge ein. Der Bundestagspräsident ging sogar noch einen Schritt weiter, als er die USA und Russland in einem Atemzug nannte: „Wenn weder der amerikanische noch der russische Staatspräsident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen.“
Feierstunde als Signal
Die Bundesversammlung als Feierstunde einer wehrhaften Demokratie. Als Signal, dass die Vertreter der sogenannten etablierten Parteien nicht länger defensiv bleiben wollen, wenn es um die Verteidigung der westlichen Werte geht. Das war das eigentlich Spannende an diesem Sonntag in Berlin, auch wenn das Ergebnis der Wahl schon vorher feststand.