Die Grenzen der Darstellbarkeit
Regisseur Milo Rau bringt am Zürcher Schauspielhaus Pasolinis „Salò“auf die Bühne
ZÜRICH - Freitagabend im Schiffbau des Züricher Schauspielhauses. Vorne auf der Bühne spielen Darsteller des Züricher Schauspielhauses und Hora, einer eigens für behinderte Menschen gegründeten Schweizer Theatergruppe. Sie stellen Passagen aus Pier Paolos Pasolinis Skandalfilm „Salò oder die 120 Tage von Sodom“nach. Es kommt zu bewegenden Szenen, auch wenn sich das Theater einmal mehr mit Grenzerfahrungen der eigenen Kunst beschäftigt.
Mit seiner filmischen Gewaltorgie thematisierte Pasolini 1975 die Schreckensherrschaft der deutschen und italienischen Faschisten während des Zweiten Weltkriegs. Milo Rau, der Schweizer Extremsportler unter den derzeit angesagten Theatermachern, unternimmt nun den Versuch, Szenen des Films nachzustellen und daraus provozierende Fragestellungen für unsere Zeit zu entwickeln.
Im Verlauf des Abends kommt es auch zu einer der Schlüsselszenen. Fabienne Villiger und Gianni Blumer vom Theater Hora liegen auf dem Boden, er nackt, sie nur mir einem Höschen bekleidet. Sie liebkosen sich und tun so, als käme es zum Geschlechtsverkehr. Das Besondere: Villiger und Blumer sind professionelle Schauspieler, aber auch Menschen mit einer Behinderung. Vor allem aber spielen sie mit einer derart unerschütterlichen, freundlichen Naivität, dass die Szene eine Anmutung von Authentizität erhält.
Man hat den Eindruck, sie spielten die Liebesszene zum ersten Mal, nichts sei geprobt. Dann nimmt das Schicksal den Lauf, den schon Pasolini vorsah. Ein bewaffneter Mann reißt die Liebenden auseinander. Sie werden exekutiert. So was wie wirkliche Liebe darf nicht sein, schließlich sind die beiden nur Spielmaterial einer perfiden Inszenierung.
Pasolinis Film aus dem Jahr 1975 basiert auf einer grausamen Erzählfantasie des Marquis de Sade. Für die Züricher Neudeutung, in der Milo Rau Szenen des Films nachspielen lässt, steht im Vordergrund, dass „Salò“in einem vom Deutschen Reich besetzten Miniaturstaat im Norden Italiens spielt.
Es geht um Minderheitenschutz
Pasolini zeigt Gewaltexzesse enthemmter faschistischer Herrenmenschen. Sie halten Jugendliche gefangen, vergewaltigen, foltern und morden. Pasolini ging es um die Funktionsmechanismen eines totalitären Staates. Er thematisierte den Hitlerund Mussolini-Faschismus mit all den Mördern im Staatsdienst, die den Völkermord an den Juden und das Euthanasie-Programm zur Auslöschung „unwerten Lebens“durchführten. Diese Grundierung des Films erklärt, warum Milo Rau ausgerechnet heute dieses kulturgeschichtliche Skandalon auf die Bühne bringt und nicht nur mit Angehörigen des Züricher Schauspielensembles, sondern auch mit Darstellern von Hora arbeitet.
In einem Text zur Uraufführung weist der Autor und Regisseur darauf hin, dass in dieser Theatergruppe vor allem Menschen mit der Diagnose Trisomie 21 auf der Bühne stehen. Und die hätten, wären sie heute Föten, kaum eine Chance, lebend geboren zu werden. Aufgrund der Fortschritte in der Pränataldiagnostik würden 90 Prozent der „mongoloiden“Föten abgetrieben. Vor allem aber soll die Adaption des PasoliniFilms „eine Metapher für die Beschmutzungsrituale des derzeitigen Populismus“sein. Milo Rau stellt also indirekt die Frage: Wie können Minderheiten künftig geschützt werden, wenn rechtspopulistische Hetzer wie führende Mitglieder der Alternative für Deutschland (AfD) oder der Schweizer Volkspartei (SVP) Regierungsgeschäfte übernehmen sollten.
Der Schweizer Theatermacher lotet gerne die Grenzen des Theaters aus und ist damit sehr erfolgreich. Gerade wurde sein „Five Easy Pieces“zum Berliner Theatertreffen eingeladen, eine Auseinandersetzung mit dem belgischen Kinderschänder und Mörder Marc Dutroux. Heftige Diskussion löste er aus, als er mit „Hate Radio“den Völkermord in Ruanda thematisierte und den Theaterabend auch dort zeigte, wo man sich mit ihm auseinandersetzen sollte: in Kigali, der Hauptstadt des Staates.
Man darf darauf gefasst sein, dass auch sein neuer Theaterabend kontrovers diskutiert wird, schließlich lässt er zwei ganz unterschiedliche Arten von Schauspielkunst aufeinanderprallen: hier die verspielten HoraAkteure, dort Charakterdarsteller wie Robert Hunger-Bühler oder Michael Neuenschwander aus dem Ensemble des Züricher Schauspielhauses, die privat anmutende Erlebnisse beisteuern.
Spiel mit Realität und Fiktion
Hunger-Bühler erzählt, welche Angstlust Pasolinis brutale „Salò“Szenen bei ihm auslösten, als er ein junger Mann war. Neuenschwander gibt bewegt zum Besten, eine Freundin und er hätten ein Kind abtreiben lassen, nachdem bei einer Schwangerschaftsuntersuchung eine Behinderung festgestellt worden sei. Ob das tatsächlich biografische Erlebnisse oder fiktionale Einschübe sind, weiß man nicht, thematisiert Milo Rau doch permanent die Frage, was im Theater und Film überhaupt authentisch ist. Um diese Frage umkreisen zu können, stellt er über weite Strecken „Salò“-Szenen nach und lotet die Grenzen der Darstellbarkeit im Theater und Film aus. Der Effekt ist verblüffend: Da startet einer, um mit einem Skandalfilm provokante Fragen zu stellen, beschäftigt sich am Ende aber lediglich mit den Geschäftsbedingungen seines Jobs. Das ist ungefähr so, als bekäme man morgens beim Bäcker keine Brötchen, sondern einen Vortrag über die Grenzen der Backkunst serviert. Weitere Infos unter: www.schauspielhaus.ch