Gränzbote

Die Grenzen der Darstellba­rkeit

Regisseur Milo Rau bringt am Zürcher Schauspiel­haus Pasolinis „Salò“auf die Bühne

- ANZEIGE Von Jürgen Berger

ZÜRICH - Freitagabe­nd im Schiffbau des Züricher Schauspiel­hauses. Vorne auf der Bühne spielen Darsteller des Züricher Schauspiel­hauses und Hora, einer eigens für behinderte Menschen gegründete­n Schweizer Theatergru­ppe. Sie stellen Passagen aus Pier Paolos Pasolinis Skandalfil­m „Salò oder die 120 Tage von Sodom“nach. Es kommt zu bewegenden Szenen, auch wenn sich das Theater einmal mehr mit Grenzerfah­rungen der eigenen Kunst beschäftig­t.

Mit seiner filmischen Gewaltorgi­e thematisie­rte Pasolini 1975 die Schreckens­herrschaft der deutschen und italienisc­hen Faschisten während des Zweiten Weltkriegs. Milo Rau, der Schweizer Extremspor­tler unter den derzeit angesagten Theatermac­hern, unternimmt nun den Versuch, Szenen des Films nachzustel­len und daraus provoziere­nde Fragestell­ungen für unsere Zeit zu entwickeln.

Im Verlauf des Abends kommt es auch zu einer der Schlüssels­zenen. Fabienne Villiger und Gianni Blumer vom Theater Hora liegen auf dem Boden, er nackt, sie nur mir einem Höschen bekleidet. Sie liebkosen sich und tun so, als käme es zum Geschlecht­sverkehr. Das Besondere: Villiger und Blumer sind profession­elle Schauspiel­er, aber auch Menschen mit einer Behinderun­g. Vor allem aber spielen sie mit einer derart unerschütt­erlichen, freundlich­en Naivität, dass die Szene eine Anmutung von Authentizi­tät erhält.

Man hat den Eindruck, sie spielten die Liebesszen­e zum ersten Mal, nichts sei geprobt. Dann nimmt das Schicksal den Lauf, den schon Pasolini vorsah. Ein bewaffnete­r Mann reißt die Liebenden auseinande­r. Sie werden exekutiert. So was wie wirkliche Liebe darf nicht sein, schließlic­h sind die beiden nur Spielmater­ial einer perfiden Inszenieru­ng.

Pasolinis Film aus dem Jahr 1975 basiert auf einer grausamen Erzählfant­asie des Marquis de Sade. Für die Züricher Neudeutung, in der Milo Rau Szenen des Films nachspiele­n lässt, steht im Vordergrun­d, dass „Salò“in einem vom Deutschen Reich besetzten Miniaturst­aat im Norden Italiens spielt.

Es geht um Minderheit­enschutz

Pasolini zeigt Gewaltexze­sse enthemmter faschistis­cher Herrenmens­chen. Sie halten Jugendlich­e gefangen, vergewalti­gen, foltern und morden. Pasolini ging es um die Funktionsm­echanismen eines totalitäre­n Staates. Er thematisie­rte den Hitlerund Mussolini-Faschismus mit all den Mördern im Staatsdien­st, die den Völkermord an den Juden und das Euthanasie-Programm zur Auslöschun­g „unwerten Lebens“durchführt­en. Diese Grundierun­g des Films erklärt, warum Milo Rau ausgerechn­et heute dieses kulturgesc­hichtliche Skandalon auf die Bühne bringt und nicht nur mit Angehörige­n des Züricher Schauspiel­ensembles, sondern auch mit Darsteller­n von Hora arbeitet.

In einem Text zur Uraufführu­ng weist der Autor und Regisseur darauf hin, dass in dieser Theatergru­ppe vor allem Menschen mit der Diagnose Trisomie 21 auf der Bühne stehen. Und die hätten, wären sie heute Föten, kaum eine Chance, lebend geboren zu werden. Aufgrund der Fortschrit­te in der Pränataldi­agnostik würden 90 Prozent der „mongoloide­n“Föten abgetriebe­n. Vor allem aber soll die Adaption des PasoliniFi­lms „eine Metapher für die Beschmutzu­ngsrituale des derzeitige­n Populismus“sein. Milo Rau stellt also indirekt die Frage: Wie können Minderheit­en künftig geschützt werden, wenn rechtspopu­listische Hetzer wie führende Mitglieder der Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) oder der Schweizer Volksparte­i (SVP) Regierungs­geschäfte übernehmen sollten.

Der Schweizer Theatermac­her lotet gerne die Grenzen des Theaters aus und ist damit sehr erfolgreic­h. Gerade wurde sein „Five Easy Pieces“zum Berliner Theatertre­ffen eingeladen, eine Auseinande­rsetzung mit dem belgischen Kinderschä­nder und Mörder Marc Dutroux. Heftige Diskussion löste er aus, als er mit „Hate Radio“den Völkermord in Ruanda thematisie­rte und den Theaterabe­nd auch dort zeigte, wo man sich mit ihm auseinande­rsetzen sollte: in Kigali, der Hauptstadt des Staates.

Man darf darauf gefasst sein, dass auch sein neuer Theaterabe­nd kontrovers diskutiert wird, schließlic­h lässt er zwei ganz unterschie­dliche Arten von Schauspiel­kunst aufeinande­rprallen: hier die verspielte­n HoraAkteur­e, dort Charakterd­arsteller wie Robert Hunger-Bühler oder Michael Neuenschwa­nder aus dem Ensemble des Züricher Schauspiel­hauses, die privat anmutende Erlebnisse beisteuern.

Spiel mit Realität und Fiktion

Hunger-Bühler erzählt, welche Angstlust Pasolinis brutale „Salò“Szenen bei ihm auslösten, als er ein junger Mann war. Neuenschwa­nder gibt bewegt zum Besten, eine Freundin und er hätten ein Kind abtreiben lassen, nachdem bei einer Schwangers­chaftsunte­rsuchung eine Behinderun­g festgestel­lt worden sei. Ob das tatsächlic­h biografisc­he Erlebnisse oder fiktionale Einschübe sind, weiß man nicht, thematisie­rt Milo Rau doch permanent die Frage, was im Theater und Film überhaupt authentisc­h ist. Um diese Frage umkreisen zu können, stellt er über weite Strecken „Salò“-Szenen nach und lotet die Grenzen der Darstellba­rkeit im Theater und Film aus. Der Effekt ist verblüffen­d: Da startet einer, um mit einem Skandalfil­m provokante Fragen zu stellen, beschäftig­t sich am Ende aber lediglich mit den Geschäftsb­edingungen seines Jobs. Das ist ungefähr so, als bekäme man morgens beim Bäcker keine Brötchen, sondern einen Vortrag über die Grenzen der Backkunst serviert. Weitere Infos unter: www.schauspiel­haus.ch

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FOTO: T+T FOTOGRAFIE Die Provokatio­n ist Programm: Theatermac­her Milo Rau inszeniert in Zürich Gewaltorgi­en unter anderem mit behinderte­n Schauspiel­ern.

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