Gränzbote

In Stein gemeißelt

In Rottweil wird am Sonntag eine Synagoge eingeweiht – Der Bau steht auch für neues jüdisches Leben in Deutschlan­d

- Von Dirk Grupe

ROTTWEIL - Manche Menschen strahlen eine Warmherzig­keit aus, die sogar die Seelen grobschläc­htiger Schurken erweichen könnte. Tatjana Malafy ist so jemand. Die Geschäftsf­ührerin der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Rottweil-VillingenS­chwenninge­n trägt gerne Hüte, die ihren schwarzen Haarschopf und das mädchenhaf­te Gesicht akzentuier­en. Sätze oder Erzählunge­n, die sie mit russischem Akzent vorträgt, beendet die 46-Jährige oft mit einem Lächeln. Berührt sie die Erkenntnis hinter dem Gesagten, kneift sie zusätzlich die Augen zusammen. Etwa wenn sie sagt: „Unsere Gefühle, die kann man gar nicht beschreibe­n.“

Womit sie die Gefühle meint angesichts eines Ereignisse­s, das über Rottweil und über Baden-Württember­g hinausstra­hlt. An diesem Sonntag wird die neue Synagoge der Stadt eingeweiht, Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n kommt, auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden, sowie Vertreter der Kirchen und andere Würdenträg­er. Für Deutschlan­d erfüllt sich damit zumindest im Miniaturko­smos Rottweil eine Hoffnung, die von Anfang an mit den sogenannte­n Kontingent­flüchtling­en aus der ehemaligen Sowjetunio­n verbunden war: Nämlich nach Verfolgung und Mord die erneute Verwurzelu­ng jüdischen Lebens in der Öffentlich­keit. Auf der anderen Seite bedeutet die Synagoge für die Betroffene­n selbst den vorläufige­n Schlusspun­kt einer schmerzhaf­ten Selbstfind­ung. Auch für Tatjana Malafy und ihre Familie.

Repression­en des Staates

„Als Juden waren wir in der Ukraine im Alltag und vom Staat dem Antisemiti­smus ausgesetzt“, sagt Malafy. Zwar verschwieg­en die Leute zumeist ihren Hintergrun­d, doch in Geburtsurk­unde und Ausweis waren sie als Juden gebrandmar­kt, was als Kind das Schulleben erschweren und als Erwachsene­r Karrieren verhindern konnte, bei Tatjana Malafy etwa im Leistungss­port als Kanufahrer­in. Im Zuge der Perestroik­a, der Modernisie­rung der Sowjetunio­n unter Gorbatscho­w, konnten die beiden Töchter immerhin eine jüdische Schule besuchen, auch wenn unter den Juden die Verunsiche­rung über ihre Zukunft zunahm.

Die Malafys darf man sich zu dieser Zeit als typische jüdische Sowjetfami­lie vorstellen: Überdurchs­chnittlich gebildet und belesen, zumeist mit akademisch­em Abschluss (er Arzt, sie schließlic­h Ingenieuri­n) – aber atheistisc­h, das Judentum gemäß der Staatsdenk­e mehr nationalis­tisch, als religiös begreifend. „Das Religiöse lebten nur unsere Kinder, wie sie es von der Schule kannten, mit den Ritualen und den Festen“, sagt Tatjana Malafy.

In der Schule erfuhren sie auch, dass die Bundesrepu­blik seit Anfang 1991 Kontingent­flüchtling­e aufnimmt, also Juden aus den Nachfolges­taaten der Sowjetunio­n. Bis zum Jahr 2004 nutzten fast eine Viertelmil­lion Menschen dieses Angebot und siedelten ausgerechn­et in das „Land der Täter“um. Trotz Holocaust war ihnen Deutschlan­d geografisc­h, klimatisch und kulturell näher als etwa Israel oder die USA, vielfach werden ökonomisch­e Gründe ausschlagg­ebend gewesen sein. Der Schock aber bei Ankunft in der neuen Heimat war groß.

Die Ankömmling­e beherrscht­en die Sprache nicht und mussten erfahren, dass ihre akademisch­en Grade und Berufsausb­ildungen, dass ihre Leben und ihre Laufbahnen aus der alten Heimat hier nichts wert waren. Und von den hiesigen jüdischen Gemeinden wurden sie bisweilen als areligiöse ehemalige Sowjetbürg­er betrachtet und nicht als Gleichgesi­nnte im Glauben.

Tatjana Malafy erlebte die Stunde null mit Mann und inzwischen drei Kindern 1997 in einem tristen Auffanglag­er in Karlsruhe. In Eigeniniti­ative organisier­te sie der Familie eine Wohnung in Rottweil, ein Glücksfall für alle Beteiligte­n. „Die Leute waren, und das sind sie bis heute, ungemein freundlich und hilfsberei­t“, sagt sie. Nachbarn und Ehrenamtli­che schenkten ihnen Bett, Spielzeug und Möbel, die Stadtbehör­den halfen und die Kinder besuchten, unterstütz­t von der Israelitis­chen Religionsg­emeinschaf­t Baden, regelmäßig jüdische Feste in Konstanz. Auf die Malafys folgte eine weitere jüdische Familie in Rottweil, dann noch eine und noch eine – und die Erwachsene­n entdeckten bei ihrer Sinnsuche in der Fremde vermehrt ihre religiösen Wurzeln. 2002 gründeten sie eine jüdische Gemeinde, seit 2007 kommt alle zwei bis drei Monate ein Baby als Neumitglie­d dazu.

Einst viele jüdische Geschäfte

„Wir wachsen von innen“, sagt die Geschäftsf­ührerin beim Gespräch im Gemeindesi­tz, einer dunklen Etagenwohn­ung, in der Kartons und leere Regale vom anstehende­n Umzug zeugen. Vor sechs Jahren begannen die Planungen für die Synagoge, die nun für eine Summe von vier Millionen Euro unweit des mittelalte­rlichen Stadtkerns steht, indem es bis zur Pogromnach­t 1938 noch viele jüdische Geschäfte gab.

Entstanden ist ein freundlich­er Ort, der mit leichten Dachschräg­en bewusst an ein Zelt erinnert, dem Stiftzelt, das tragbare Heiligtum, das Moses nach Anweisung des Allmächtig­en baute. Die Fassade ziert ein wie in Stein gemeißelte­r Davidstern. Hell und einladend erscheint auch das Innere, mit zahlreiche­n Fenstern, einem Festraum mit Mobiliar aus Buchenholz, mit einer Empore für die Frauen, mit Jugend- und Seniorenra­um, mit Büros und mit einer koscheren Küche, getrennt in eine „milchige“und eine „fleischige“, wird doch das Judentum von der Gemeinde orthodox gelebt und damit weniger liberal als vielerorts vor der Nazizeit. Kameras und schusssich­eres Glas sind notwendig als Schutz gegen Angriffe, doch ist mit der Synagoge ein Gemeindeze­ntrum entstanden, das allen Bürgern offen stehen soll.

Schon zur Grundstein­legung erinnerte Landrat Wolf-Rüdiger Michel (CDU) an die Grausamkei­ten des Dritten Reichs, an Menschen, die in Rottweil eine Heimat hatten, „doch der Staat entzog ihnen Würde, Gesundheit, oft das Leben“. Und der parteilose Oberbürger­meister Ralf Broß freute sich: „Wir schließen hier an eine lange Tradition an.“

In der Tat lässt sich in Rottweil jüdisches Leben bereits im Mittelalte­r nachweisen, dem erst die Pest ein Ende setzte. Danach waren in der Stadt über Jahrhunder­te Juden nicht geduldet und nicht erwünscht. Erst im 19. Jahrhunder­t etablierte sich erneut eine jüdische Gemeinde, wenn auch unter Schwierigk­eiten, zeitweise kam sie im Gasthaus „Becher“unter, dann in der „Krone“, längerfris­tig in einem Privathaus in der Kameralamt­sgasse 6, dort mehr Zentrum mit Betsaal denn Synagoge. Im Lauf der Zeit entwickelt­en sich die Juden zu einem bedeutsame­n Wirtschaft­sfaktor der Stadt, mit Modegeschä­ften, mit Druckerei, mit Rechtsanwä­lten und Ärzten.

Ab 1933 begannen Boykott und Hetze, Schaufenst­erschmiere­reien und Enteignung­en, was in der „Reichskris­tallnacht“in Brand und Zerstörung mündete. Ein Großteil der Rottweiler Juden konnte während dieser Zeit in die USA oder nach Israel fliehen, etwa 80 kamen in Konzentrat­ionslagern um. In der Kameralamt­sgasse 6 ist heute eine Fahrschule untergebra­cht, eine Gedenktafe­l erinnert an die Vergangenh­eit.

Für die Stadt ist es nun der dritte Anlauf, jüdisches Leben zu etablieren, mit der Synagoge schließt sich ein mehrfach unterbroch­ener Kreis. Auch für die Gemeindemi­tglieder fügt sich etwas zusammen, aber anderer Natur. Etwas, das mit dem Begriff Heimat, das mit der Suche nach einer eigenen Identität verbunden ist. „Wer baut, bleibt, heißt es ja“, sagt Tatjana Malafy, die so stolz von ihren Kindern erzählt, von deren Uniabschlü­ssen, beziehungs­weise guten Schulnoten. Die alle mehrere Sprachen beherrsche­n und sich über den russischen Akzent der Mutter lustig machen. „Wir sind keine Ukrainer“, sagt Tatjana Malafy. „Wir sind Juden.“

Dann lächelt sie und kneift ein wenig die Augen zusammen.

„Als Juden waren wir in der Ukraine im Alltag und vom Staat dem Antisemiti­smus ausgesetzt.“Tatjana Malafy von der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Rottweil-Villingen-Schwenning­en

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FOTO: DIRK GRUPE Gute Seele und treibende Kraft der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Rottweil: Tatjana Malafy in der neuen Synagoge.
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FOTO: DIRK GRUPE Von außen soll die neue Synagoge an ein Zelt erinnern, die Fassade ziert ein Davidstern.
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FOTOS: CC BY-SA 3.0/CC BY-SA 3.0 Lange diente ein Eckhaus in der Kameralamt­sgasse 6, in Rottweil der jüdischen Gemeinde als Heimat.
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