Gränzbote

Verfasst mit Blut und Tränen

Armin Petras inszeniert in Stuttgart „Eines langen Tages Reise in die Nacht“mit Edgar Selge und Peter Kurth

- Von Jürgen Berger

Die Franzosen vergeben ihre „Césars“immer kurz vor der Oscar-Verleihung in den USA. Der Thriller „Elle“von Paul Verhoeven ist zum

Isabelle Huppert

besten Film, (Foto: imago) zur besten Darsteller­in gekürt worden. Bei „Einfach das Ende der Welt“des Frankokana­diers Xavier Dolan wurden die Regie und der Hauptdarst­eller Gaspard Ulliel gewürdigt. Den Preis für den besten ausländisc­hen Film gewann das Sozialdram­a „Ich, Daniel Blake“von Ken Loach. Für emotionale Elemente sorgten George Clooney und seine Frau Amal. Der Hollywoods­tar machte seiner Frau, die im Sommer Zwillinge erwartet, vor einem begeistert­en VIP-Publikum eine Liebeserkl­ärung: „I love you much“, warf er ihr zu. Bewegend war auch der Auftritt von Jean-Paul Belmondo. Dem 83-Jährigen wurde mit einer Reihe von Ausschnitt­en aus seinen Filmen die Ehre erwiesen. Belmondo hatte Tränen in den Augen, als er sich dafür bedankte. (dpa) STUTTGART - Als der Pulitzer- und Literaturn­obelpreist­räger 1956 „Eines langen Tages Reise in die Nacht“schrieb, war das, als analysiere Eugene O’Neill die Abgründe seiner eigenen Herkunft. Sechs Jahre später verfilmte Sidney Lumet das Familiendr­ama, in der Rolle der heroinsüch­tigen Mary Tyrone: Katharine Hepburn. Stuttgarts Schauspiel-Intendant Armin Petras hat nun eine überaus extravagan­te Besetzungs­Variante gewählt. Peter Kurth spielt Mutter Tyrone!

Ein in sich verkeiltes Ehepaar, deren Söhne, ein Hausmädche­n und eine Geschichte über den unaufhalts­amen Höllenstur­z einer Familie sind die Ingredienz­ien dieses Klassikers aus der goldenen Zeit des psychologi­schen Bühnennatu­ralismus USamerikan­ischer Prägung. Vater James hätte einer der ersten Schauspiel­er Amerikas werden können, erwarb aber die Rechte am drittklass­igen Stück „Der Graf von Monte Christo“und tingelte fortan mit der Familie durch die amerikanis­che Provinz. Geld verdiente er genug, verspekuli­erte es aber auch sofort. Jetzt ist er ein alternder Geizhals. Und Mary? Ein Sohn starb, zwei sind ihr geblieben. Der Jüngste wird aber wohl an Schwindsuc­ht sterben. Mary gibt sich die Schuld und verschwind­et zusehends im Heroinnebe­l.

Psychogram­m einer Familie

All das hat der heranwachs­ende O’Neill in der eigenen Familie erlebt. Als er später im Alter von mehr als sechzig Jahren seiner dritten Ehefrau das Originalma­nuskript schickte, stand im Begleitbri­ef, das Stück sei „geboren aus frühem Schmerz, verfasst mit Blut und Tränen“(nachlesen kann man das im empfehlens­werten Programmhe­ft). Eugene O’Neills Psychogram­m einer sich zerfleisch­enden Familie ist auf deutschspr­achigen Bühnen immer und derzeit besonders häufig präsent. Aleksandar Denic hat für die Stuttgarte­r Inszenieru­ng ein sinnfällig­es und die Zeitgeschi­chte illustrier­endes Bühnenbild gebaut. Ein Labyrinth, wie der Bühnenbild­ner das ansonsten für Frank Castorf baut, ist es nicht, ein Sinnbild für den Traum und Alptraum des amerikanis­chen „Alles ist möglich“schon.

Über der Szenerie prangt das Logo der Standard Oil Company, dem Ölkonzern, mit dem eine Ende des 18. Jahrhunder­ts aus der Armut des rheinland-pfälzische­n Rockenfeld nach Amerika geflüchtet­e Familie ihren Reichtum begründete. Die Rockefelle­rs stehen dafür, dass auch heutige Flüchtling­e in der neuen Heimat ihr Glück machen und zum Gemeinwohl beitragen können – so man sie lässt. Dreht sich das voluminöse Bühnenense­mble, kommt hinter dem im Empire-Stil gehaltenen Salon mit Galatreppe der Tyronesche­n Sommervill­a die Kehrseite dessen zum Vorschein, was Armutsmigr­ation damals wie heute bedeuten kann: die hoch aufragende Bordwand der Titanic, die genau in dem Jahr mit hunderten von irischen „Armutsflüc­htlingen“im eisigen Atlantik versank, in dem O’Neill sein Familiendr­ama spielen ließ.

Die Bühne dreht sich, während es neben all dem Hass und Selbstmitl­eid, all den Vorwürfen, Anschuldig­ungen und Entschuldi­gungen vor allem darum geht, dass die Mutter des Tyrone-Clans gerade aus der letzten Entziehung­skur zurückgeke­hrt ist. Jetzt wollen alle nur eines: Sie vom Heroin fern halten. Dummerweis­e konsumiert jeder der potentiell­en Mamaretter aber auch enthemmt Whisky. Armin Petras führt das exemplaris­ch mit dem Hausmädche­n vor. Cathleen ist in Gestalt von Julischka Eichel ein derart schnippisc­hes mit allen Tyrone-Männern flirtendes Mädchen vom Lande, dass man schon Verständni­s dafür hat, wie häufig sie sich ein Gläschen gönnt. Allerdings wagt sich die Darsteller­in mit ihren mimischen und gestischen Kapriolen weit in die Gefilde des Schmierent­heaters vor.

Wir haben verstanden

Ähnliches gilt auch für Peter René Lüdicke, der als ältester Sohn derart exzessiv brüllend in den Suff torkelt, dass man ihn am liebsten in die Garderobe schicken möchte. Ist ja gut! Wir haben verstanden! Solche improvisie­rten Entgleisun­gen und gelegentli­che tänzerisch­e Einlagen (Choreograf­ie: Berit Jentzsch) sind alleine deshalb völlig überflüssi­g, weil Armin Petras ansonsten überzeugen­des Schauspiel­ertheater inszeniert. Manolo Bertling etwa verwechsel­t als jüngster Sohn zwar hin und wieder Lautstärke mit Intensität, kann aber durchaus darauf aufmerksam machen, dass da zwar ein von der Mutter gepamperte­s Familienkü­ken durch die Gegend geistert, der junge Mann aber auch das peinigende Gefühl zu verkraften hat, er werde wohl nicht sehr alt werden.

Das sind die Trabanten einer Familienau­fstellung, in deren Zentrum zwei Elterntier­e der ganz besonderen Art weiden. Edgar Selge spielt den gescheiter­ten Familien-Patriarche­n James wohltuend zurückhalt­end. Da ist kein verkrachte­r Schauspiel­er unterwegs, der zuhause die Strahlkraf­t seines darsteller­ischen Vermögens testen muss, sondern ein nachdenkli­ch bis feiger Mann, der all die Risse und Wunden im Familienge­füge am liebsten mit Heftplaste­r heilen würde. Selge unterlegt das mit kurzen mimischen Extravagan­zen in Richtung des Hausmädche­ns. Ist da was und wenn Ja, was?

Ganz intensiv wird es, wenn die Gattin erscheint und Selge spielt, dass auch bei so einem in allen Niederunge­n des Lebens geschulten Ehepaar große Verbundenh­eit und Wertschätz­ung mit im Spiel sein kann. Den Respekt zollt er Peter Kurth, der als Mary viel mehr ist, als nur ein Schauspiel­er in einer Frauenroll­e. Kurth ist eine tragisch-melancholi­sche Frau, bei der man nicht so genau weiß, leidet die wirklich derart, dass nur noch „Mothers little helper“helfen, oder ist da ein sich absentiere­ndes Frauenwese­n unterwegs, ein magischer Geist, der die Familie fest im Griff hat. Peter Kurth versenkt sich derart in dieses Frauenlebe­n, dass man am Ende den Eindruck hat, er benötige noch Stunden, um ins Leben jenseits der Bühne zurückzufi­nden. Weitere Aufführung­en heute Abend, 5., 14., 26. März, 7. und 26. April. Kartentele­fon Staatsthea­ter Stuttgart; (0711) 20 20 90 www.schauspiel-stuttgart.de

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FOTO: THOMAS AURIN Eindrucksv­oll ist das Bühnenbild Aleksandar Denics, in dem der Höllenstur­z der Familie Tyrone mit Mutter Mary (Peter Kurth, auf der Treppe) und Vater James (Edgar Selge, rechts) stattfinde­t. Und über allem schwebt das Bildnis des jüngsten Sohnes,...
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