Die letzte Zigarette
Raucher sind eine schrumpfende Minderheit. Aber es gibt sie noch. Begegnungen auf einem Rauchfrei-Seminar
FRIEDRICHSHAFEN - „An Lungenkrebs werden Sie nicht sterben. An Lungenkrebs stirbt man nicht einfach, an Lungenkrebs verreckt man. Das ist ein Unterschied.“Im großen Seminarraum des Franziskus-Zentrums in Friedrichshafen ist es so leise, dass man die Asche einer Zigarette fallen hören könnte. Der Satz des Arztes weht wie ein eisiger Windhauch durch den Sitzkreis. Selbst der notorische Raucherhusten, den rund ein Viertel der Menschen fast ohne Unterlass in den Saal bellt, verstummt. Gerade haben noch alle über Johann Kees und seinen Rauchfrei-Vortrag gelacht. Denn Kees ist selbst Ex-Raucher, er prahlt von 60 bis 80 Kippen täglich, die er in sich hineingesogen haben will. Er ist ein guter Geschichtenerzähler. Kein Mediziner im Elfenbeinturm. Sondern ein Jedermann zum Anfassen, den die Seminarteilnehmer schnell ins Herz schließen, weil: Irgendwie ist er selbst nach 20 Jahren Nikotin-Abstinenz noch immer einer von ihnen.
Er kennt all die Ausreden, die Ausflüchte, die Selbstberuhigungen, wie Raucher sie verinnerlicht haben: Dass es schon nicht gerade einen selbst erwischen wird. Dass man auch an 1000 anderen Sachen außer dem Rauchen sterben kann. Und dass es ja schließlich einen Helmut Schmidt gegeben hat, der fröhlich bis ins höchste Alter eine Zigarette nach der anderen mehr gefressen als geraucht hat. Doch wenn Kees in seinem Vortrag an diese heikle Stelle kommt, gerade nach dem Block, als alle noch so euphorisch gewirkt haben, wenn er also von Krankheit, Sterben und Tod erzählt, dann ziehen die Frauen Taschentücher aus ihren Handtaschen hervor, in denen sie auch ihre Marlboros oder Camels aufbewahren, ihre Pall Malls oder Lucky Strikes. Dann ist Kees auf einen Schlag nicht mehr dieser lustige Geschichtenerzähler, dieser Dr. Dolittle unter den Rauchfrei-Trainern. Dann ist er Dr. Tod.
Im Gegensatz zum Alkohol, der zwar tendenziell weniger getrunken wird, aber dessen Ende nicht in Sicht ist, scheinen sich die Anhänger der Zigarette in absehbarer Zeit – im übertragenden Sinne – in Rauch aufzulösen. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind die Menschen im Saal Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Art. Das mit dem Aussterben sieht Johann Kees allerdings nicht im übertragenden, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. „Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie an den verdammten Dingern sterben“, sagt der Allgemeinmediziner mit einer Stimme, die an dieser Stelle so eindringlich wie eine singende Säge klingt. Von Kees sagen eine Menge Leute, er könne auch die besonders harten Fälle endgültig vom Glimmstängel losbekommen. Und Kees ist keiner, der seine Botschaft mit blütenzarten Worten verbreitet. Seine Sätze knallen vielmehr in den Köpfen der Teilnehmer wie mit dem Holzhammer formuliert. Und so kommt es, dass die Gesichter der langjährigen Raucher – ohnehin zum Teil von einer grauen Blässe gezeichnet – noch ein bisschen blasser werden. Aber um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Der Teil mit den Horrorszenarien ist nur eine kleine Facette von Kees’ Vortrag. Viel mehr Raum nehmen die positiven Aspekte ein. Das Schwärmen vom Mehr an Energie, von Glück und Gesundheit.
Nach den ersten Stunden Vortrag wirkt die 57-jährige Waltraud aus Radolfzell noch immer entspannt. Die Dramaturgie des ganzen Vortrags steuert unverkennbar auf die letzte Zigarette zu, die nachher feierlich in Rauch aufgehen wird. Doch das macht ihr keine Angst. Sie hat der Wille nach Friedrichshafen geführt, „endgültig Schluss zu machen“. Das sei das Einzige, was er in seinem Vortrag nicht für die Teilnehmer tun könne: „Den Willen, aufzuhören, den müssen Sie schon selber mitbringen. Beim Rest helfe ich“, sagt Kees beim Interview Tage vor dem Seminar.
Wollte man ein treffendes Feindbild für die Tabakindustrie zeichnen, es könnte das Gesicht von Johann Kees tragen. Der Allgemeinmediziner ist Mitte 50. Wache Augen, ein dauerhaft optimistischer Zug spielt um seinen Mund, der etwas Lausbubenhaftes besitzt. Die übliche Nüchternheit in strahlendem Weiß existiert in seiner Praxis nicht. Dort stehen eine Menge asiatischer Elefanten herum, Buddhafiguren. Im Wartezimmer gibt es einen Kaffeeautomaten und Butterbrezeln für die Patienten.
„Wissen Sie“, sagt er, „das Geld ist natürlich auch schön. Da müsste ich lügen, wenn ich was anders behaupten würde. Aber das wirklich Faszinierende ist doch, dass ich so vielen Leuten ein neues Leben schenken konnte.“Das Seminar inklusive Spritze kostet 199 Euro, viele Krankenkassen beteiligen sich daran. Kees spricht von einer Erfolgsquote von 80 Prozent. Nach allem was Experten sagen, wäre das eine grandiose Quote, von der andere Anbieter nur träumen können. Ärztekammern sehen die Erfolgsquoten von Seminaren und Therapien bei 20 bis 30 Prozent.
Obwohl der Anteil der Raucher an der Bevölkerung kontinuierlich schrumpft, sind es laut Tabakatlas 2015, den das Deutsche Krebsforschungszentrum herausgibt, noch immer etwa 25 Prozent. Und um dieses Viertel kämpft die Tabakbranche umso erbitterter, wobei das langfristig wie ein Kampf auf verlorenem Posten wirkt. Vor wenigen Wochen erst hat die Branche eine Fusion zwischen British American Tobacco (BAT) und Reynolds American verkündet. Oder in Zigaretten ausgedrückt: Lucky Strike macht jetzt mit Camel gemeinsame Sache.
Obwohl Zigaretten teurer denn je sind, betrachtet Kees das gesparte Geld nicht als wichtigstes Argument zum Aufhören. „Bei mir war es die Tatsache, dass ich ungefähr 30 Prozent meiner Lebensenergie wiedergewonnen habe.“Und mit diesen 30 Prozent wirbt der Arzt jetzt auch bei seinen Seminarteilnehmern. „Sie rauchen doch nicht, weil Sie gestresst sind. Was Ihnen Stress macht, ist die Sorge, wo und wie Sie die nächste Zigarette rauchen können!“Geschmack, Freiheit, Abenteuer, Coolness – all das seien Lügen, eingetrichtert von der Werbung. „In Wahrheit rauchen Sie alle nur aus einem einzigen Grund: Weil Sie süchtig sind!“Und weil nur die Zigarette den Junkie im Raucher für eine kurze Weile zum Schweigen bringe. „Sie bezahlen Unsummen, ruinieren Ihre Gesundheit, verlieren Ihre Würde, weil sie nur noch in dunklen Ecken neben den Mülltonnen rauchen dürfen, und das alles nur damit der Junkie in Ihnen das Maul hält!“
Fünf Jahre rauchfrei
Der Geschichtenerzähler Kees malt starke Bilder vors innere Auge. Und er hat die Fähigkeit, Komplexität auf leicht verständliche Modelle herunterzubrechen. Vielleicht macht das seinen Erfolg aus. Stefan aus Friedrichshafen, etwa Mitte 30, ist von Johann Kees jedenfalls fest überzeugt, denn er hat schon einmal mithilfe des Arztes aufgehört. „Damals hat es fünf Jahre gehalten“, sagt er, als er vor dem Gebäude feierlich seine vorerst allerletzte Zigarette raucht. „Dass ich wieder angefangen habe, da bin ich selber schuld.“Er hat eine der gebetsmühlenartigen Regeln von Kees nicht beachtet. Nämlich jene, dass allein ein Zug genügt, und alles geht wieder von vorne los. Gerade weil man sich nach einiger Zeit ohne Zigarette in Sicherheit wähnt. Doch das, so sind sich die 36 versammelten Noch-Raucher sicher, haben sie hinter sich. Der letzte Akt ist jetzt die Spritze. Beim Gang ins Behandlungszimmer, trennen sich die frisch gebackenen Ex-Raucher von ihren Kippen und Feuerzeugen und legen sie auf den Tresen. Was genau in der Injektion ist, Kees bleibt im Ungefähren. Er spricht von Vitaminen, Spurenelementen und Medikamenten. „Die Spritze heilt Sie nicht, aber sie macht den Junkie in ihnen leiser.“Der penetrante Kerl, der in jedem Raucher wohnt und brüllt: „Komm, wir gehen eine rauchen!“
Es dauert keine zwei Minuten, da hat Kees die Injektion bei Waltraud aus Radolfzell an verschiedenen Punkten in Gesicht und Nacken gesetzt. „War nicht schlimm,“sagt sie. Über ihr Gesicht strahlt ein Lachen. Diesmal, so ist sie sicher, ist die 42 Jahre dauernde Raucherkarriere Geschichte. Die rund 300 000 Glimmstängel, die seit ihrem 15. Lebensjahr verglüht sind. Die verbrannten Geldsummen, irgendwo zwischen 70 000 und 100 000 Euro.
Anruf bei Seminar-Teilnehmern nach zehn Tagen: „Perfekt. Ich bin stabil, habe kein Verlangen“, sagt Stefan. Der starke Husten sei fast verflogen und Kumpels trauen sich wieder in sein Auto, weil es nicht mehr wie ein fahrbarer Aschenbecher stinkt. Waltraud indes hat keine guten Neuigkeiten: „Ich bin rückfällig geworden.“Vielleicht, so sinniert sie, sei sie noch nicht bereit gewesen. „Aber ich rauche jetzt viel weniger.“Ein Husten am anderen Ende der Leitung, und nach kurzer Pause: „Ich glaube, in der Spritze waren Placebos drin.“Außerdem: So ganz sei der Kees auch nicht ihr Typ gewesen. „Der hat nichts in mir bewirkt.“Doch das ändere nichts an der Tatsache, dass sie sehr bald kommen werde, die letzte, die allerletzte Zigarette.