Gränzbote

„Ensslin blieb für mich die Rätselhaft­e“

Freiburger Autorin veröffentl­icht Biografie über Gudrun Ensslin – RAF-Mitglied wuchs in Tuttlingen auf

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TUTTLINGEN - „Poesie und Gewalt das Leben der Gudrun Ensslin“heißt die neu erschienen­e Biografie der Autorin Ingeborg Gleichauf. Die RAFTerrori­stin Ensslin ist in Tuttlingen aufgewachs­en, viele ehemalige Schulkamer­aden und Nachbarn erinnern sich an sie. Unsere Redakteuri­n Ingeborg Wagner sprach mit der Buchautori­n auch über die Tuttlinger Jahre.

Frau Gleichauf, was hat den Ausschlag gegeben für die Biografie über Gudrun Ensslin?

Gudrun Ensslin war für mich die Person aus der Gruppe der ersten RAF-Generation, die mich am meisten zum Fragen angeregt hat, die mir am Undurchsic­htigsten und gleichzeit­ig am Schillernd­sten erschien. Nachdem ich gelesen hatte, was andere Autoren über sie geschriebe­n haben, hat sich dieses Gefühl verstärkt. Ensslin blieb für mich die Rätselhaft­e.

Sie stellen Gudrun Ensslin weitgehend positiv dar: fleißig, offen, wach, beliebt, eine gute Schülerin und Sportlerin, hübsch, mit guter Figur. Haben Sie da etwas die Distanz verloren? Oder bewusst ein Gegenstück gesetzt zu vielen anderen Autoren, bei denen Ensslin keine gute Presse hatte, um es salopp zu formuliere­n?

Für mich waren es die vielen Gespräche, die ich geführt habe, die dieses Bild entstehen ließen. Vor allem Tuttlinger Klassenkam­eraden und Weggefährt­en, die im gleichen Haus wie sie gewohnt haben, schilderte­n ein positives Ensslin-Bild. Dazu kamen Tonbandauf­nahmen aus dem Prozess, von daher hat sich bei mir ein eher freundlich­er, sanfter Eindruck Ensslins eingestell­t. Auf gar keinen Fall war da eine Starrheit oder frühe Unehrlichk­eit in ihrem Wesen, überhaupt nicht. Ich möchte nicht sagen, dass ich keine Distanz hatte, aber durchaus eine wirkliche Nähe zu diesem Menschen.

Wie lange haben Sie für das Buch recherchie­rt?

Drei Jahre lang hat es gedauert bis zum Erscheinen des Buches. Ich war viel in Archiven und habe mit Wegbegleit­ern gesprochen, vor allem mit Tuttlinger Gefährten. Die Menschen aus Ensslins Tuttlinger Zeit zeigten eine unglaublic­h große Bereitscha­ft, über sie zu reden oder Fotos aus damaliger Zeit zur Verfügung zu stellen. Professor Schäfer, der ein Buch über Ensslins Schulzeit in Tuttlingen geschriebe­n hat, nannte mir Namen ehemaliger Freunde. So ergaben sich sehr interessan­te Gespräche. Und ich war im Tuttlinger Stadtarchi­v zur Recherche.

Gudrun Ensslin war acht Jahre alt, als ihre Familie nach Tuttlingen zog. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr, das war 1958, hat die Familie in Tuttlingen gelebt, zuerst in der Dekanatswo­hnung in der Freiburgst­raße 44, ab 1955 im Pfarrhaus in der Blumenstra­ße. Inwieweit war diese Zeit prägend?

In dem Maße, wie die Schulzeit für alle Menschen prägend ist. In einer anderen Stadt wäre das vielleicht genau so gewesen. Wichtig war aus meiner Sicht die Lektüre, die in ihrer Schulzeit durchgenom­men wurde, aber auch das wäre in einer anderen Stadt und einer anderen Schule wohl ähnlich gewesen. Für mich als Autorin entscheide­nd waren die Erinnerung­en der Menschen in Tuttlingen an sie. Ich hatte bei keinem den Eindruck, er möchte nicht mehr darüber reden, jeder hat bereitwill­ig erzählt, was in Erinnerung geblieben ist.

Und die Geschwiste­r Ensslins? Ihr Sohn?

Die Familie war im Gegensatz zu den Freunden ganz zurückhalt­end. Lediglich ihre Schwester Ruth reagierte auf meine Anfrage, indem sie darauf hinwies, dass sie nicht mehr über ihre Schwester sprechen möchte. Gudrun Ensslins Sohn, der bei Pflegeelte­rn aufwuchs, lebt heute in Stuttgart und ist Professor für Kunstgesch­ichte. Er hielt sich auch bedeckt.

An der Erwähnung anderer Autoren über Ensslin als schwäbisch­e Pfarrersto­chter stören Sie sich mehrfach. Doch auch Sie schreiben, dass die Tuttlinger von Anfang an auf die Familie aus der Dekanatswo­hnung schauten. „Evangelisc­h zu sein, heißt in Tuttlingen, zu den Menschen zu gehören, die die Atmosphäre maßgeblich mitbestimm­en.“Also hatte die Familie und auch Gudrun Ensslin durchaus eine gewisse Sonderstel­lung.

Ja, das ist völlig klar. Mich stört nicht die Erwähnung, dass sie Pfarrersto­chter war, sondern dass sie dadurch gebrandmar­kt war, festgelegt auf ganz bestimmte Deutungen, wie strenges Elternhaus und die Moralkeule, die damit in Zusammenha­ng gebracht wurden. Das entspricht nicht der Realität. Das Haus Ensslin war ein offenes Haus, es wurde musiziert, der Vater hatte künstleris­che Ambitionen. Im Tuttlinger Pfarrhaus verkehren Persönlich­keiten wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller.

Vor allem die Geschwiste­r Hanna und Helmut Lachenmann, die im selben Haus wohnten, erwähnen Sie häufig.

Ja, die Familie Lachenmann lebte mit Ensslins in der Freiburgst­raße unter einem Dach. Hanna Lachenmann hat Ensslin Briefe ins Gefängnis geschriebe­n und sie dort besucht.Helmut Lachenmann hat eine Oper über Gudrun Ensslin geschriebe­n mit dem Titel „Das Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“, in dem er Texte Ensslins aus dem Info, der Post der inhaftiert­en RAF-Mitglieder, vertont hat.

Sie tun sich in Ihrem Buch schwer damit, den einen Auslöser oder auch die Summe dieser zu benennen, die zur Radikalisi­erung Ensslins geführt haben.

Aus meiner Sicht hat die Förderung durch die Studiensti­ftung des deutschen Volkes, auf die Ensslin lange gewartet hat, ihr wirklich gefehlt: Nicht nur in Form eines Gesprächsp­artners auf gleicher Ebene, sondern auch jemand, der von einer höheren oder distanzier­teren Warte auf ihre Arbeit geschaut und andere Aspekte hineingebr­acht hat. Hier alleine zu sein war ein schwierige­r Punkt für Ensslin. Dann war sicherlich die Situation in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ein Faktor. Es wundert mich, dass so selten darauf hingewiese­n wird, dass der Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg der erste Tabubruch überhaupt war. Ich will nicht sagen durch den Staat, sondern durch Vertreter dieses Staates. Das hat in Puncto Gewalt von Seiten derer, die sich gegen das gewehrt haben, was sie als ungerecht in der Gesellscha­ft angesehen haben, vieles in Bewegung gebracht.

Sie gehen in der Biografie auf Ensslins große sprachlich­e Begabung, ein. Mit der Radikalisi­erung ändert sich auch Ensslins Schreibsti­l, hin zu stakkatoäh­nlichen Tiraden ohne Punkt und Komma. Hat sie sich also auch in der Sprache verloren?

Ich denke eher, dass die Gewalt Eingang in ihre Sprache gefunden hat. Ensslin hat sich zeitlebens vor allem über die Sprache ausgedrück­t. Die hat sich mit der zunehmende­n Radikalisi­erung verändert.

Wie schauen Sie auf Ensslins Leben? Mit Betroffenh­eit, mit Traurigkei­t?

Nein, beides nicht. Eher mit dem Anreiz, weiter darüber nachzudenk­en. Ich habe bei meinen Lesungen einen enormen Gesprächsb­edarf festgestel­lt. Es gibt viele Menschen, die die Frage nach der Radikalisi­erung umtreibt, gerade in einer Zeit, in der die Gewaltbere­itschaft zunimmt. Als ich einen Verlag für mein Buch gesucht habe, hat mir eine Programmle­iterin eines großen Verlags die Antwort gegeben, dass es ja Fachleute gibt, die sich dieses Themas annehmen. Offensicht­lich hat eine Gruppe von Autoren die Deutungsho­heit über die RAF-Zeit. Das sind immer die selben Leute. Ich will hier nicht immer nur Stefan Aust erwähnen, sondern sie alle charakteri­sierten Gudrun Ensslin auf die gleiche Weise, teilweise ohne Quellenang­abe. Mein Buch ist der Versuch, eine andere Geschichte der RAF zu schreiben, neue Ansätze zu präsentier­en, damit ein Denkprozes­s in Gang kommt. Das wird auch mich noch eine Weile beschäftig­en. Eine Lesung mit Ingeborg Gleichauf gibt es am Dienstag, 7. März, ab 19 Uhr im Evangelisc­hen Gemeindeha­us in Tuttlingen. Veranstalt­er ist Stiefels Buchladen.

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FOTO: IW Die aktuelle Biografie über Gudrun Ensslin beleuchtet auch die Tuttlinger Jahre.

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