Auferstanden aus Ruinen
Martin Walser zum Neunzigsten: Die Stuttgarter Bühnenfassung seines Roman-Erstlings „Ehen in Philippsburg“
STUTTGART - Kurz vor dem Geburtstag des amtierenden Urgesteins der deutschsprachigen Literatur liefert das Stuttgarter Staatsschauspiel eine Adaption des Romans, mit dem Martin Walser vor sechzig Jahren berühmt wurde. Inszeniert hat Stephan Kimmig. Zu sehen ist der Bilderbogen einer moralinsauren Nachkriegsgesellschaft.
Was der naive Jungjournalist Beumann während seiner ersten Schritte ins Berufsleben mitten in den Aufbruchsjahren des Wirtschaftswunderlandes Deutschland erlebt, trägt autobiografische Züge. Den noch nicht einmal 30-jährigen Martin Walser, der damals über die bigott-verklemmten Fünfzigerjahre schrieb, sollte man sich allerdings alles andere als naiv vorstellen. Dass der Roman in einer nordbadischen Stadt spielt, ist eine Finte. Tatsächlich angesiedelt ist die Handlung in Stuttgart, wo Walser für den Süddeutschen Rundfunk als Reporter und Hörspiel-Autor unterwegs war.
Karriere und Seitensprünge
Er wusste, worüber er schrieb, als er den Roman nach einer Abtreibung und zwei Selbstmorden mit einem Hans Beumann enden ließ, der wie all die männlichen Role Models einer aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs auferstandenen Stadtgesellschaft nur noch an Karriere und Seitensprünge denkt. Mit dem fein ironischen, stellenweise aber auch zu geschwätzigen Entwicklungsroman gewann Walser den damals noch taufrischen Hermann Hesse-Literaturpreis. Sechzig Jahre nachdem er über Nacht berühmt wurde, gab es nun die erste Bühnenversion von „Ehen in Philippsburg“. Erstellt wurde die Adaption von dem Regisseur Stephan Kimmig und dem Dramaturgen Jan Hein. Die Premiere am Wochenende fand knapp zwei Wochen vor dem 90. Geburtstag Martin Walsers im Schauspielhaus statt.
Der Jubilar will sich das wohl noch ansehen und wird, sollte er sich in Stuttgart einfinden, auf ein großräumiges und nach allen Seiten offenes Ambiente der Fünfzigerjahre blicken. Es könnte ein weiträumiger Park-Pavillon, aber auch die Eingangshalle eines Unternehmens sein. In diesem stilsicher ausgestatteten Raum (Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes) machen 14 Schauspielerinnen und Schauspieler einen fast durchgängig frivolen Eindruck. Der gebürtige Stuttgarter und derzeit vor allem am Berliner Deutschen Theater tätige Kimmig wollte zeigen, dass unter der moralinsauren Oberfläche der urbanen Nachkriegsgesellschaft eine wilde Landschaft der Begierden und Triebe lauert. Machen die Bürger Party, inszeniert Kimmig eine Gegensatz: Musikalischer Zündstoff sind französische Chansons, getanzt wird allerdings steif und als feiere das dereinst überaus beliebte Fernsehballett ein Revival.
Man hat sich für die Uraufführung einiges einfallen lassen. Im Foyer gibt es zum Beispiel eine mit Unterstützung des Literaturarchivs Marbach zusammengestellte kleine Ausstellung von Manuskriptseiten und einzelnen Briefen aus der Zeit, in der Walser mit seinem Lektor Siegfried Unseld und dem Verlagschef Peter Suhrkamp verhandelte, ob die in aller Brutalität geschilderte Szene nicht doch gestrichen werden soll. Beumanns Verlobte Anne lässt einen Fötus abtreiben. Heute kann man sagen: Es war gut, dass Walser meinte, das sollte dann doch „in krasser Sachlichkeit“dargestellt werden. Immerhin sorgt Sandra Gerling als Anne für die eindringlichste Szene eines Abends, der ansonsten – wie schon der Roman – die letzten Seelenwinkel von vier Männern durchleuchtet.
Da ist Berthold Klaff (Horst Kotterba), seines Zeichens Pförtner am Theater der Stadt und ein Gegenentwurf zu den Karrieremännchen des Romans. Klaff bringt sich auf der Zielkurve des Romans um, spielt in der Stuttgarter Adaption aber eine untergeordnete Rolle. Die Doktoren der Gynäkologie und Jurisprudenz dagegen, Alf Benrath und Alexander Alwin, nehmen weitaus mehr Raum ein. Das nutzt der als Stuttgarter „Tatort“-Kommissar bekannte Felix Klare insofern, als er dem braungebrannten Gynäkologen einen coolen Anstrich gibt. So einer lässt sich nicht in die Karten blicken, was gut zu dem Lügengespinst passt, mit dem Benrath vor seiner Gattin Birga (Verena Wilhelm) verbergen will, wie häufig er die attraktive Cécile besucht.
Birga bringt sich um, Cécile ist in Stuttgart keineswegs eine nur auf den Doktor wartende Geliebte. Svenja Liesau macht aus ihr eine selbstbewusste Frau, die Männer schnippisch abblitzen lässt. Sie kann sich das erlauben, wird sie so doch umschwärmt und könnte auch mit Alexander Alwin intim werden, diesem unter der Knute seiner Gattin Ilse (Manja Kuhl) keuchenden Juristen. Paul Grill macht aus dem angehenden Berufspolitiker einen adrenalingesteuerten Zappelphilipp und steht für die Tendenz der Inszenierung, in einzelnen Figuren lediglich eine Karikatur sehen zu wollen.
Und der Jungjournalist Beumann, der eigentlich bei einem seriösen Verlag einsteigen will, sich vom Fabrikanten und künftigen Schwiegervater Volkmann (Michael Stiller) aber ganz fix überreden lässt, eine der ersten Marketing-Zeitungen der Republik zu gründen? Ingenieur Volkmann baut Rundfunkempfänger und die ersten Fernseher der Republik. Dass Volkmanns Tochter Anne mit zum Paket gehört, nimmt Beumann billigend in Kauf. Stephan Kimmig wiederum wollte, dass Martin Walsers alter ego auf einem Laufband durch den Text joggt. Matti Krause meistert das souverän, muss aber in Kauf nehmen, dass er ein über weite Strecken gleichförmiger Erzähler der Beumann-Geschichte ist. Auch das steht für eine Inszenierung, die offensichtlich unter der Last keucht, eine möglichst große Menge Erzählstoff aus dem Roman abbilden zu wollen. Weitere Vorstellungen am 25., 30. März, 8., 11., 28. April, 6. und 25. Mai. Kartentelefon Staatstheater Stuttgart (0711) 20 20 90, www.schauspiel-stuttgart.de