Gränzbote

Experiment­alanstalt für Weltunterg­änge

Warum ein gemeinsame­s Europa in den Zwanzigern gescheiter­t ist

- Von Reinhold Mann

Mit seinen 200 Seiten ist das ein vergleichs­weise dünnes Buch über die Zwischenkr­iegszeit von 1918 bis 1939. Das liegt daran, dass der österreich­ische Historiker Walter Rauscher schon viele Publikatio­nen über diese Jahre vorgelegt hat und hier ein Resümee zieht. „Das Scheitern Mitteleuro­pas“, heißt sein neues Buch. Dessen Qualität liegt in der vergleiche­nden Betrachtun­g. Diese Methode ergibt sich für einen österreich­ischen Historiker gleichsam von selbst, während die deutsche Perspektiv­e auf jene Jahre überwiegen­d national fixiert ist. Es geht Rauscher um die Versuche, bereits in der Zwischenkr­iegszeit eine Europäisch­e Union aufzubauen. Dafür gab es zwei gute Gründe.

Karl Renner, Staatskanz­ler der ersten drei Regierunge­n in Österreich, hatte ein Sicherheit­skonzept vor Augen. Er wollte verhindern, dass die alten Großmächte und die neue Sowjetunio­n im Konfliktfa­ll Druck auf die kleinen Staaten Mitteleuro­pas ausüben. Mit Letzteren sind hier vor allem jene Staaten gemeint, die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Habsburger-Monarchie entstanden sind.

Robuster Nationalis­mus

Sie wurden in den Friedensko­nferenzen nach politische­n Kategorien geschneide­rt. Die Wirtschaft der Vorkriegsz­eit war allerdings bereits globalisie­rt. Die jungen Staaten konnten sich jetzt unbevormun­det als Nationalst­aaten fühlen, aber sie waren keine funktionsf­ähige Wirtschaft­seinheit. Daraus ergibt sich der zweite Grund zu übernation­alen Kooperatio­nen: als Versuch, die Wirtschaft­slage der Staaten zu verbessern. Je schlimmer diese in den späten Zwanzigern wurde, desto mehr kamen Initiative­n für eine Zusammenar­beit auf. Dazu gehörte die Idee einer Zollunion, von Föderation­en (etwa aus Österreich, der Tschechosl­owakei und Jugoslawie­n) und sogar der direkte „Anschluss“an Deutschlan­d. Der wurde zeitweilig in Prag und Wien diskutiert. Und es waren gerade Verfechter eines robusten Nationalge­dankens, die dieser Lösung anhingen.

Systeme mit Grundfehle­rn

Dass diese Konzepte keinen Erfolg hatten, dafür kann Rauscher eine ganze Reihe von Gründen benennen. Vor allem weil die alten Großmächte wie etwa Frankreich alarmiert reagierten, während sie das Entstehen der ersten faschistis­chen Regierunge­n unbesorgt laufen ließen. Allerdings hätten die Staaten auch mehr Zeit für eine Vertrauens­bildung untereinan­der benötigt.

So zeigt sich wieder einmal, dass Staatensys­teme an Grundfehle­rn ihrer Konstrukti­on scheitern. Wo ein politische­r Wille ist, ist auch ein Weg, aber eben auch der Holzweg. Rauscher zitiert Karl Kraus, der das Vielvölker­reich der Habsburger­Monarchie des 19. Jahrhunder­ts eine „Experiment­alanstalt für Weltunterg­änge“genannt hat. Das Europa der Zwischenkr­iegszeit, so wie Rauscher hier zeichnet, verdient diesen Titel mit gleichem Recht. Es ist ein Europa ohne Chance. Die Staaten hatten die Wahl, auf unterschie­dlichen Wegen zu scheitern. Walter Rauscher: Das Scheitern Mitteleuro­pas, Kremayr & Scheriau Wien, 206 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: WIKICOMMON­S ?? Die Karte zeigt die vielen Nationalit­äten, die unter dem Dach der Donaumonar­chie vereint waren. Nach dem Zusammenbr­uch des Habsburger Reiches bildeten viele eigene Nationalst­aaten.
FOTO: WIKICOMMON­S Die Karte zeigt die vielen Nationalit­äten, die unter dem Dach der Donaumonar­chie vereint waren. Nach dem Zusammenbr­uch des Habsburger Reiches bildeten viele eigene Nationalst­aaten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany