Land prescht bei Fernbehandlung vor
Ärzte sehen Neuerung mit gemischten Gefühlen – Modellprojekt könnte bald starten
STUTTGART - Als erstes Bundesland will Baden-Württemberg dem Ärztemangel mit Sprechstunden via Telefon und Internet begegnen. Seit Anfang April können sich Ärzte um Teilnahme an einem Modellprojekt bewerben. Während die Politik dadurch auf eine bessere Versorgung gerade auf dem Land hofft, ist die Landesärztekammer skeptisch. „Die Politik glaubt, dadurch dem Ärztemangel in der Fläche beizukommen“, sagte Kammerpräsident Ulrich Clever am Donnerstag in Stuttgart. „Der Meinung sind wir nicht.“
Wenn sich die Delegierten aus ganz Deutschland vom 23. bis 26. Mai zum 120. Ärztetag in Freiburg treffen, werden sie auch über das Thema Fernbehandlung sprechen. Diese ist bislang nur möglich, wenn der Arzt den Patienten kennt. „Die Berufsordnung sagt, der Arzt muss den Patienten sehen“, so Landesärztekammerpräsident Clever. Die Kammer hatte als bundesweit erste ihre Berufsordnung im Juli 2016 geändert. Dadurch ist es möglich, dass ein Arzt einen Kranken telefonisch oder online behandelt, auch wenn sich die beiden nicht kennen. Das Sozialministerium hat das im November genehmigt.
„Ich verspreche mir von diesem gelockerten Fernbehandlungsverbot innovative und zukunftsweisende Modellprojekte“, erklärte Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). „Letztlich könnte dies im ländlichen Raum genauso sinnvoll sein wie allgemein zur Entlastung der Arztpraxen oder von Notfallambulanzen auch im städtischen Bereich.“Clever sieht die Behandlung aus der Distanz nüchterner. „Der Druck das zu machen, weil die Schweiz vor unserer Haustür das bereits macht, ist groß.“
Ergänzung, nicht Verlagerung
Clever betonte, dass die Fernbehandlung aus Sicht der Kammer nicht als Verlagerung, sondern als Ergänzung zu verstehen sei. „Das wird den Ärztemangel nicht beseitigen“, so Clever. Und der sei trotz einem Rekordwert von 65 420 Mitgliedern in der Ärztekammer überall im Land gegeben. Als Gründe dafür nannte er, dass junge Ärzte stärker auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie pochten, gerade auch weil Ärzte mittlerweile zu 45 Prozent weiblich seien. Da die Bürger außerdem immer älter und dadurch auch kränker werden, brauchten Ärzte immer mehr Zeit für Diagnostik und Behandlung. Aktuell gebe es im hausärztlichen Bereich 100 Angebote zur Praxisübernahme, rund 20 Kommunen im Land suchten aktiv nach Allgemeinmedizinern.
Ärzte und Ärztegruppen können sich seit dem 1. April für die neue Art der Behandlung bei der Kammer bewerben. Sie entscheidet anhand von Qualitätskriterien über die Teilnahme am Modellversuch. „Wir bekommen täglich Anfragen“, so Clever. Auch mit Technikfirmen, die die nötige Infrastruktur bereitstellen wollen, gebe es zahlreiche Kontakte. Doch entschieden sei noch nichts, da die Kammer Detailfragen zu klären habe – etwa dazu, wie das Projekt evaluiert werden kann. Klar sei aber, dass die Ärzte, die den Zuschlag bekommen, in Baden-Württemberg ansässig sein sollen und nur Patienten aus dem Land behandeln dürfen. Das Sozialministerium kündigte an, solche Projekte aus dem Topf für Digitalisierung in Medizin und Pflege, der insgesamt 4,3 Millionen Euro umfasst, zu fördern. Der FDP-Gesundheitsexperte Jochen Haußmann spricht von einem großen Potenzial der Telemedizin. „Ich fordere, diese endlich umfassend in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen.“
Kritik an Landarztquote
Einiges sei bereits auf den Weg gebracht, um dem Ärztemangel zu begegnen, so Clever. „Hier reicht es nicht, wie häufig gefordert, die Studienplatzkapazitäten zu erhöhen.“Eine Absage erteilte er zudem der Landarztquote, wie sie im „Masterplan Medizinstudium 2020“vorgesehen ist. Der auf Bundesebene verabschiedete Maßnahmenkatalog gibt Ländern die Möglichkeit, bis zu zehn Prozent der Medizinstudienplätze vorab an Bewerber zu vergeben, wenn diese sich verpflichten, für bis zu zehn Jahre in der hausärztlichen Versorgung in unterversorgten ländlichen Regionen tätig zu sein. „Man kann von einem 19jährigen 1,0-Abiturienten nicht erwarten, dass er sich darauf festlegt, wo er nach Studium und Facharztausbildung in 15 Jahren mit seiner Familie sein wird. Wir sind keine Schachfiguren“, sagte Clever. Strafzahlungen seien dabei ein schwieriges Thema.
Vielmehr solle die Attraktivität des Allgemeinmedizinerberufs gesteigert werden. Hier verzeichne die Kammer Erfolge. Gab es 2011 im Südwesten nur 122 Facharztprüfungen für Allgemeinmedizin, so stieg deren Zahl kontinuierlich auf 188 im vergangenen Jahr. Zudem lobte Clever, dass der „Masterplan“vorsieht, dass Medizinstudenten ein Quartal ihres „praktischen Jahres“bei niedergelassenen Ärzten absolvieren müssen und dass Allgemeinmedizin auch im Staatsexamen geprüft wird.