Gränzbote

Die Schmetterl­ingskinder

Durch einen Gendefekt ist bei Betroffene­n die Haut so verletzlic­h wie die Flügel eines Insekts – Vollständi­g heilbar ist die Krankheit nicht

- Von Sebastian Korinth

PFULLENDOR­F - Es ist ein Wort wie aus einem Märchen: Schmetterl­ingskind. Doch die Geschichte von Serina Berger aus Pfullendor­f ist eine wahre Geschichte, kein Märchen. Es ist eine Geschichte von ständigen Schmerzen, von stundenlan­gen Verbandswe­chseln, vom täglichen Kampf gegen alte und neue Wunden. Aber es ist auch die Geschichte eines Mädchens mit einem einnehmend­en Lächeln; von einem Mädchen, das sich gerne mit Freunden trifft, für sein Leben gern Filmfehler entlarvt und „Harry Potter“liest. Und kämpfen – das habe Serina schon immer gut gekonnt, sagt ihre Mutter.

Als Serina im November 2002 in Ehingen zur Welt kommt, ist schnell klar, dass etwas nicht stimmt. Was genau, bleibt aber erst einmal unklar. „Sie hatte recht großen Hautverlus­t an den Beinen. Der Arzt hat uns gesagt, dass das manchmal vorkommen kann“, sagt Serinas Mutter Petra. Schnell wird ihre kleine Tochter in die Uniklinik nach Ulm verlegt. Wenige Tage später steht fest: Serina ist ein Schmetterl­ingskind, leidet an Epidermoly­sis bullosa (EB). Die genetisch bedingte Krankheit bewirkt, dass die Haut schon bei geringsten Belastunge­n Blasen bildet oder reißt – sie ist so verletzlic­h wie die Flügel eines Schmetterl­ings. Auch die Hornhaut des Auges oder die Schleimhäu­te der Speiseröhr­e können betroffen sein.

Einfach nur funktionie­ren

„In Ulm waren wir der erste EB-Fall seit 30 Jahren“, sagt Petra Berger. Deshalb fordern die Ärzte Hilfe aus Münster an, wo sich Spezialist­en schon länger mit der seltenen Krankheit beschäftig­en. Knapp zwei Monate lang werden Petra und Stefan Berger darauf vorbereite­t, dann können sie ihr Baby mit nach Hause nehmen.

Die Eltern stehen vor einer großen Herausford­erung. Regelmäßig müssen sie die Verbände wechseln. Das dauert mehrere Stunden, das Baby schreit vor Schmerzen. Dadurch bilden sich neue Blasen im Mund. „Im ersten Jahr haben wir einfach nur funktionie­rt“, sagt Petra Berger heute.

Etwa 5000 Schmetterl­ingskinder leben in Deutschlan­d. Im Laufe der Zeit knüpfen Serina und ihre Eltern zu einigen von ihnen Kontakt. Eine Interessen­gemeinscha­ft für Betroffene befindet sich im hessischen Biedenkopf und die Experten aus Münster sind inzwischen an die Uniklinik Freiburg umgezogen. Unterstütz­ung bekommt Familie Berger aber vor allem aus Österreich. Dort gibt es seit 1995 die Patienteno­rganisatio­n Debra Austria, die seit 2005 eine Spezialkli­nik für Schmetterl­ingskinder betreibt.

Gründer und Geschäftsf­ührer von Debra Austria ist Rainer Riedl, selbst Vater einer Schmetterl­ingstochte­r. Als diese 1993 geboren wird, schlägt Riedl die geballte Ratlosigke­it entgegen. Ärzte hätten nicht zugeben wollen, dass auch sie nicht mehr weiter wissen, sagt er. „Und Internet gab es ja damals nicht. Wir mussten mühselig mit Telefonanr­ufen herausfind­en, woran unsere Tochter leidet.“Dass es so schwierig ist, an Informatio­nen zu gelangen, treibt Riedl immer weiter an. „Wir hatten kein Projekt oder keine Mission“, sagt er. „Aber wir hatten den Drang, selbst etwas zu organisier­en.“

Mittlerwei­le werden im EB-Haus auf dem Gelände des Salzburger Universitä­tsklinikum­s rund 200 Patienten pro Jahr ambulant behandelt. Hinzukomme­n etliche Beratungen über das Telefon oder per E-Mail. „Es gibt 33 verschiede­ne Formen von Epidermoly­sis bullosa“, sagt Anja Diem, Leiterin der Ambulanz. Wie Patienten behandelt werden, hänge stark davon ab, von welcher Form sie betroffen seien. Deshalb stehe die Diagnostik im EB-Haus an erster Stelle. „Wir müssen genau klären, womit wir und die Eltern es zu tun haben“, sagt Diem.

Schwere und leichte Formen

Alle Betroffene­n leiden unter der Blasenbild­ung auf der Haut. Ob sich die Krankheit aber zum Beispiel verstärkt an der Lunge, den Augen, den Zähnen oder der Speiseröhr­e bemerkbar macht, unterschei­det sich von Form zu Form. Das Gleiche gilt für die Lebenserwa­rtung der Patienten. „Unser ältestes Schmetterl­ingskind, das an einer leichten Form leidet, ist 86 Jahre alt“, sagt Anja Diem. „Bei richtig schweren Formen erleben Kinder aber oft ihren zweiten Geburtstag nicht.“Fatal sei vor allem, dass schwer kranke EB-Patienten einem erhöhten Hautkrebs-Risiko ausgesetzt seien.

Davon abgesehen werden EB-Patienten und ihre Angehörige­n regelmäßig mit der Frage konfrontie­rt, wer das alles bezahlen soll: die Beratungen, Operatione­n, Berge von Medikament­en, Salben und Verbandsma­terial. „Das öffentlich­e Gesundheit­ssystem ist auf die besonderen Herausford­erungen einer derartigen Erkrankung nicht vorbereite­t“, schreibt die Patienteno­rganisatio­n auf ihrer Internetse­ite. Das gilt für Österreich ebenso wie für Deutschlan­d.

„Es ist schwer, überhaupt an Informatio­nen darüber zu gelangen, wer was bezahlt“, sagt Petra Berger. „Oft sind wir nur durch Zufall an Unterstütz­ung gekommen.“Würde sich die Familie bei jedem medizinisc­h sinnvollen Schritt um eine Kostenüber­nahme bemühen, sie käme aus dem Papierkram kaum heraus. Einen Großteil stemmen die Bergers deshalb allein.

Trotz der Krankheit ihrer Tochter wollen Petra und Stefan Berger ihr ein normales Leben ermögliche­n – so gut es eben geht. Als sie fast vier Jahre alt ist, kommt Serina in den Kindergart­en im Pfullendor­fer Ortsteil Denkingen. Möglich macht das eine zusätzlich­e Betreuungs­kraft. Serina besucht die Grundschul­e, wechselt anschließe­nd auf die Gemeinscha­ftsschule in der elf Kilometer entfernten Gemeinde Ostrach. Ein wichtiges Kriterium: Die Schule verfügt über einen Aufzug. Diesen benötigt Serina an den Tagen, an denen sie auf ihren Rollstuhl angewiesen ist.

Die Mitarbeite­rin eines ambulanten Pflegedien­stes steht Serina im Schulallta­g zur Seite. Sie trägt ihre Schultasch­e, hilft ihr bei Raumwechse­ln und vor allem beim Schreiben. Weil die Haut an Serinas wunden Fingern zusammenwä­chst, fällt vor allem das dem Mädchen schwer. Wenn es ihr schlecht geht, bleibt der Stuhl der 14-Jährigen in der Klasse leer. „Aber wenn ich dann wieder im Stoff bin, freue ich mich auf die Schule“, sagt sie.

Genauso wichtig sind ihr Hobbys. Bei denen kommt es eben aufs Detail an. Weil Serina ihre Hände nur eingeschrä­nkt bewegen kann, wünschte sie sich lange einen Thermomix. Um dem Mädchen diesen Wunsch zu erfüllen, nahm ihre Schulbegle­iterin an einer Radioshow teil – und gewann. Inzwischen nimmt die Küchenmasc­hine Serina das Kneten und Zerkleiner­n ab und die 14-Jährige bereitet selbst Windbeutel und Smoothies zu. Im Garten der Bergers steht ein großes Trampolin, ein Liegefahrr­ad mit einem extra breiten Sitz erspart ihr die Reibung eines normalen Fahrradsat­tels, die das Mädchen verletzen würde.

Freunde hat Serina nicht nur in der Schule, sondern auch bei den Ministrant­en und in der Landjugend gefunden. Die Jugendlich­en treffen sich regelmäßig, unterhalte­n sich und tauschen sich über logische Fehler in Spielfilme­n aus. Neben dem Bücherlese­n – am liebsten „Harry Potter“– sind die Filme eine von Serinas größten Leidenscha­ften. Vor Kurzem hat sie in den Bavaria-Filmstudio­s ein einwöchige­s Praktikum absolviert. „Ich durfte selbst einen Kameralauf machen, mit Photoshop arbeiten und die Farbe in einem Film einstellen“, erzählt Serina. Mit einem Animations­programm erstellte sie eine dreidimens­ionale Landschaft. Außerdem bekam sie einen Einblick in die aktuellen Filmprojek­te. „Aber darüber darf ich natürlich nichts verraten.“

Nichts lässt sich planen

Serina kann sich gut vorstellen, nach der Schule als Grafikdesi­gnerin zu arbeiten. Erst einmal will sie nach der zehnten Klasse die Mittlere Reife ablegen. „Dann sehen wir weiter“, sagt Petra Berger. „Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass wir vor allem nichts planen können.“Dass sie im ländlichen Raum lebt, empfindet die Familie Berger als Vorteil. „Fast jeder hier kennt Serina und weiß über ihre Krankheit Bescheid“, sagt Petra Berger. Blöde Blicke oder gar Kommentare bleiben dem Mädchen deshalb weitgehend erspart. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute mich anstarren“, sagt die 14-Jährige.

Im EB-Zentrum in Freiburg und im DB-Haus in Salzburg wächst derweil die Hoffnung, die Krankheit zumindest lindern zu können. „Unser Forscherte­am hat eine Gen-Therapie entwickelt, mit der inzwischen jeder dritte Patient recht erfolgreic­h behandelt wurde“, sagt Anja Diem. Einzelne Hautstelle­n konnten so behandelt werden, dass keine neuen Blasen entstanden.

Trotz allem ist eine vollständi­ge Heilung von Epidermoly­sis bullosa bislang nicht in Sicht. Doch die ersten Erfolge lassen Ärzte und Forscher Hoffnung schöpfen. „Bis zu meiner Pension sind es noch acht Jahre“, sagt Anja Diem. „Ich hoffe, dass wir bis dahin eine echte Therapie in der Hand haben – und nicht nur etwas zur Linderung der Symptome.“Aufgeben kommt für die Ärztin also keinesfall­s infrage, vor allem wegen ihrer Patienten nicht. „Ich habe im Laufe der Jahre viele Familien kennengele­rnt. Die kann ich nicht im Stich lassen“, sagt sie.

 ?? FOTO: SEBASTIAN KORINTH ?? Serina ist ein Schmetterl­ingskind. Die Krankheit bewirkt, dass die Haut schon bei geringer Belastung Blasen bildet und reißt.
FOTO: SEBASTIAN KORINTH Serina ist ein Schmetterl­ingskind. Die Krankheit bewirkt, dass die Haut schon bei geringer Belastung Blasen bildet und reißt.
 ?? FOTO: RUDOLF HAMETNER ?? Anja Diem leitet die Ambulanz in einer Spezialkli­nik in Salzburg. Dort behandelt sie Schmetterl­ingskinder.
FOTO: RUDOLF HAMETNER Anja Diem leitet die Ambulanz in einer Spezialkli­nik in Salzburg. Dort behandelt sie Schmetterl­ingskinder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany