Die Schmetterlingskinder
Durch einen Gendefekt ist bei Betroffenen die Haut so verletzlich wie die Flügel eines Insekts – Vollständig heilbar ist die Krankheit nicht
PFULLENDORF - Es ist ein Wort wie aus einem Märchen: Schmetterlingskind. Doch die Geschichte von Serina Berger aus Pfullendorf ist eine wahre Geschichte, kein Märchen. Es ist eine Geschichte von ständigen Schmerzen, von stundenlangen Verbandswechseln, vom täglichen Kampf gegen alte und neue Wunden. Aber es ist auch die Geschichte eines Mädchens mit einem einnehmenden Lächeln; von einem Mädchen, das sich gerne mit Freunden trifft, für sein Leben gern Filmfehler entlarvt und „Harry Potter“liest. Und kämpfen – das habe Serina schon immer gut gekonnt, sagt ihre Mutter.
Als Serina im November 2002 in Ehingen zur Welt kommt, ist schnell klar, dass etwas nicht stimmt. Was genau, bleibt aber erst einmal unklar. „Sie hatte recht großen Hautverlust an den Beinen. Der Arzt hat uns gesagt, dass das manchmal vorkommen kann“, sagt Serinas Mutter Petra. Schnell wird ihre kleine Tochter in die Uniklinik nach Ulm verlegt. Wenige Tage später steht fest: Serina ist ein Schmetterlingskind, leidet an Epidermolysis bullosa (EB). Die genetisch bedingte Krankheit bewirkt, dass die Haut schon bei geringsten Belastungen Blasen bildet oder reißt – sie ist so verletzlich wie die Flügel eines Schmetterlings. Auch die Hornhaut des Auges oder die Schleimhäute der Speiseröhre können betroffen sein.
Einfach nur funktionieren
„In Ulm waren wir der erste EB-Fall seit 30 Jahren“, sagt Petra Berger. Deshalb fordern die Ärzte Hilfe aus Münster an, wo sich Spezialisten schon länger mit der seltenen Krankheit beschäftigen. Knapp zwei Monate lang werden Petra und Stefan Berger darauf vorbereitet, dann können sie ihr Baby mit nach Hause nehmen.
Die Eltern stehen vor einer großen Herausforderung. Regelmäßig müssen sie die Verbände wechseln. Das dauert mehrere Stunden, das Baby schreit vor Schmerzen. Dadurch bilden sich neue Blasen im Mund. „Im ersten Jahr haben wir einfach nur funktioniert“, sagt Petra Berger heute.
Etwa 5000 Schmetterlingskinder leben in Deutschland. Im Laufe der Zeit knüpfen Serina und ihre Eltern zu einigen von ihnen Kontakt. Eine Interessengemeinschaft für Betroffene befindet sich im hessischen Biedenkopf und die Experten aus Münster sind inzwischen an die Uniklinik Freiburg umgezogen. Unterstützung bekommt Familie Berger aber vor allem aus Österreich. Dort gibt es seit 1995 die Patientenorganisation Debra Austria, die seit 2005 eine Spezialklinik für Schmetterlingskinder betreibt.
Gründer und Geschäftsführer von Debra Austria ist Rainer Riedl, selbst Vater einer Schmetterlingstochter. Als diese 1993 geboren wird, schlägt Riedl die geballte Ratlosigkeit entgegen. Ärzte hätten nicht zugeben wollen, dass auch sie nicht mehr weiter wissen, sagt er. „Und Internet gab es ja damals nicht. Wir mussten mühselig mit Telefonanrufen herausfinden, woran unsere Tochter leidet.“Dass es so schwierig ist, an Informationen zu gelangen, treibt Riedl immer weiter an. „Wir hatten kein Projekt oder keine Mission“, sagt er. „Aber wir hatten den Drang, selbst etwas zu organisieren.“
Mittlerweile werden im EB-Haus auf dem Gelände des Salzburger Universitätsklinikums rund 200 Patienten pro Jahr ambulant behandelt. Hinzukommen etliche Beratungen über das Telefon oder per E-Mail. „Es gibt 33 verschiedene Formen von Epidermolysis bullosa“, sagt Anja Diem, Leiterin der Ambulanz. Wie Patienten behandelt werden, hänge stark davon ab, von welcher Form sie betroffen seien. Deshalb stehe die Diagnostik im EB-Haus an erster Stelle. „Wir müssen genau klären, womit wir und die Eltern es zu tun haben“, sagt Diem.
Schwere und leichte Formen
Alle Betroffenen leiden unter der Blasenbildung auf der Haut. Ob sich die Krankheit aber zum Beispiel verstärkt an der Lunge, den Augen, den Zähnen oder der Speiseröhre bemerkbar macht, unterscheidet sich von Form zu Form. Das Gleiche gilt für die Lebenserwartung der Patienten. „Unser ältestes Schmetterlingskind, das an einer leichten Form leidet, ist 86 Jahre alt“, sagt Anja Diem. „Bei richtig schweren Formen erleben Kinder aber oft ihren zweiten Geburtstag nicht.“Fatal sei vor allem, dass schwer kranke EB-Patienten einem erhöhten Hautkrebs-Risiko ausgesetzt seien.
Davon abgesehen werden EB-Patienten und ihre Angehörigen regelmäßig mit der Frage konfrontiert, wer das alles bezahlen soll: die Beratungen, Operationen, Berge von Medikamenten, Salben und Verbandsmaterial. „Das öffentliche Gesundheitssystem ist auf die besonderen Herausforderungen einer derartigen Erkrankung nicht vorbereitet“, schreibt die Patientenorganisation auf ihrer Internetseite. Das gilt für Österreich ebenso wie für Deutschland.
„Es ist schwer, überhaupt an Informationen darüber zu gelangen, wer was bezahlt“, sagt Petra Berger. „Oft sind wir nur durch Zufall an Unterstützung gekommen.“Würde sich die Familie bei jedem medizinisch sinnvollen Schritt um eine Kostenübernahme bemühen, sie käme aus dem Papierkram kaum heraus. Einen Großteil stemmen die Bergers deshalb allein.
Trotz der Krankheit ihrer Tochter wollen Petra und Stefan Berger ihr ein normales Leben ermöglichen – so gut es eben geht. Als sie fast vier Jahre alt ist, kommt Serina in den Kindergarten im Pfullendorfer Ortsteil Denkingen. Möglich macht das eine zusätzliche Betreuungskraft. Serina besucht die Grundschule, wechselt anschließend auf die Gemeinschaftsschule in der elf Kilometer entfernten Gemeinde Ostrach. Ein wichtiges Kriterium: Die Schule verfügt über einen Aufzug. Diesen benötigt Serina an den Tagen, an denen sie auf ihren Rollstuhl angewiesen ist.
Die Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes steht Serina im Schulalltag zur Seite. Sie trägt ihre Schultasche, hilft ihr bei Raumwechseln und vor allem beim Schreiben. Weil die Haut an Serinas wunden Fingern zusammenwächst, fällt vor allem das dem Mädchen schwer. Wenn es ihr schlecht geht, bleibt der Stuhl der 14-Jährigen in der Klasse leer. „Aber wenn ich dann wieder im Stoff bin, freue ich mich auf die Schule“, sagt sie.
Genauso wichtig sind ihr Hobbys. Bei denen kommt es eben aufs Detail an. Weil Serina ihre Hände nur eingeschränkt bewegen kann, wünschte sie sich lange einen Thermomix. Um dem Mädchen diesen Wunsch zu erfüllen, nahm ihre Schulbegleiterin an einer Radioshow teil – und gewann. Inzwischen nimmt die Küchenmaschine Serina das Kneten und Zerkleinern ab und die 14-Jährige bereitet selbst Windbeutel und Smoothies zu. Im Garten der Bergers steht ein großes Trampolin, ein Liegefahrrad mit einem extra breiten Sitz erspart ihr die Reibung eines normalen Fahrradsattels, die das Mädchen verletzen würde.
Freunde hat Serina nicht nur in der Schule, sondern auch bei den Ministranten und in der Landjugend gefunden. Die Jugendlichen treffen sich regelmäßig, unterhalten sich und tauschen sich über logische Fehler in Spielfilmen aus. Neben dem Bücherlesen – am liebsten „Harry Potter“– sind die Filme eine von Serinas größten Leidenschaften. Vor Kurzem hat sie in den Bavaria-Filmstudios ein einwöchiges Praktikum absolviert. „Ich durfte selbst einen Kameralauf machen, mit Photoshop arbeiten und die Farbe in einem Film einstellen“, erzählt Serina. Mit einem Animationsprogramm erstellte sie eine dreidimensionale Landschaft. Außerdem bekam sie einen Einblick in die aktuellen Filmprojekte. „Aber darüber darf ich natürlich nichts verraten.“
Nichts lässt sich planen
Serina kann sich gut vorstellen, nach der Schule als Grafikdesignerin zu arbeiten. Erst einmal will sie nach der zehnten Klasse die Mittlere Reife ablegen. „Dann sehen wir weiter“, sagt Petra Berger. „Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass wir vor allem nichts planen können.“Dass sie im ländlichen Raum lebt, empfindet die Familie Berger als Vorteil. „Fast jeder hier kennt Serina und weiß über ihre Krankheit Bescheid“, sagt Petra Berger. Blöde Blicke oder gar Kommentare bleiben dem Mädchen deshalb weitgehend erspart. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute mich anstarren“, sagt die 14-Jährige.
Im EB-Zentrum in Freiburg und im DB-Haus in Salzburg wächst derweil die Hoffnung, die Krankheit zumindest lindern zu können. „Unser Forscherteam hat eine Gen-Therapie entwickelt, mit der inzwischen jeder dritte Patient recht erfolgreich behandelt wurde“, sagt Anja Diem. Einzelne Hautstellen konnten so behandelt werden, dass keine neuen Blasen entstanden.
Trotz allem ist eine vollständige Heilung von Epidermolysis bullosa bislang nicht in Sicht. Doch die ersten Erfolge lassen Ärzte und Forscher Hoffnung schöpfen. „Bis zu meiner Pension sind es noch acht Jahre“, sagt Anja Diem. „Ich hoffe, dass wir bis dahin eine echte Therapie in der Hand haben – und nicht nur etwas zur Linderung der Symptome.“Aufgeben kommt für die Ärztin also keinesfalls infrage, vor allem wegen ihrer Patienten nicht. „Ich habe im Laufe der Jahre viele Familien kennengelernt. Die kann ich nicht im Stich lassen“, sagt sie.