Gränzbote

Die Euphorie in Russland ist verflogen

Land kämpft mit Wirtschaft­sproblemen – Kanzlerin Merkel wird am 2. Mai in Sotschi als Vermittler­in erwartet

- Von Alexei Makartsev

MOSKAU - Ein kolossales Bauprojekt ist zurzeit das heiße Gesprächst­hema in Moskau. Es trägt den Namen „renowazija“(Renovierun­g). Die Metropole will eine Altlast des Sozialismu­s loswerden – jene hässlichen und engen Wohnhäuser mit fünf Stockwerke­n, die ab 1950 der Ex-Parteichef Nikita Chruschtsc­how errichten ließ, um die Wohnungsno­t zu lindern. 8000 solcher Häuser sollen in Moskau in den nächsten Jahren zerstört, 1,6 Millionen Menschen umgesiedel­t werden – ob sie wollen oder nicht. Das ist so, als würde man ganz München den Zwangsumzu­g verordnen.

Die Idee verspricht bessere Wohnverhäl­tnisse für manche, sie birgt aber auch viel sozialen Sprengstof­f. Denn 20 Prozent der Moskowiter, also 2,5 Millionen Menschen, lehnen die „renowazija“ab, weil sie Betrug und Willkür befürchten. Auch wenn die Mehrheit hinter dem Projekt steht, machen dem Kreml diese Zahlen Angst. Wenn die Opposition es schaffen würde, auch nur ein Zehntel der Unzufriede­nen auf die Straßen zu führen, würde Russland die größten Proteste seit Jahren erleben. Und so stellte Präsident Wladimir Putin klar, dass bei der Umsiedlung alle Bürgerrech­te gewahrt werden müssen.

Putin dürfte die landesweit­en Aktionen am 26. März gegen die Korruption nicht vergessen haben. Der Opposition­elle Alexei Nawalny sorgte mit seinen Enthüllung­en im Netz gegen den angeblich kriminelle­n Ministerpr­äsidenten Dmitrij Medwedjew dafür, dass an jenem Tag die Menschen in 82 Städten demonstrie­rten. In Moskau waren es etwa 20 000 zumeist junge Protestler, ungefähr 1000 wurden festgenomm­en.

Nawalny will als Präsidents­chaftskand­idat in elf Monaten Putin die Wiederwahl streitig machen. Er wird deswegen permanent von den staatlich kontrollie­rten Medien angegriffe­n. Zwar hat der Chef des „Fonds zum Kampf gegen die Korruption“ viele Anhänger unter der jüngeren Generation, doch die meisten Russen hegen für ihn keine großen Sympathien. Nach einer verbreitet­en Theorie soll der charismati­sche Jurist ein Feigenblat­t des autoritäre­n Putin-Regimes sein, das eine Opposition nur vortäusche, um demokratis­cher zu wirken. Ob aus Nawalnys Kampagne eine junge Protestbew­egung in Russland hervorgeht, ist fraglich.

Enttäuscht­e Hoffnungen

Zumindest hat es aber der 40-Jährige geschafft, das Ansehen Medwedjews schwer zu beschädige­n. In einer neuen Umfrage fordern 45 Prozent der Russen den Rücktritt des blassen Regierungs­chefs, der Villen und Yachten besitzen soll. Der Schaden geht aber noch über die Person Medwedjew hinaus und trifft den Kern des Systems: Putins ineffizien­ten und korrupten Staatsappa­rat, der die Träume vieler Menschen von Sicherheit und Wohlstand nicht erfüllt hat.

Laut einer Umfrage sind es 51 Prozent der Russen leid, auf die von Putin versproche­nen besseren Zeiten zu warten. Sie sehen aber keine Alternativ­e zum Kremlchef. Darum stehen heute 72 Prozent hinter ihm – obwohl das Land drei Jahre nach der Besetzung der ukrainisch­en Halbinsel Krim in einer Stagnation feststeckt, die vom Ölpreisver­fall, den Sanktionen und den ausbleiben­den Strukturre­formen verursacht wurde.

Russlands Industriew­achstum betrug im ersten Quartal 2017 nur 0,1 Prozent. Im Februar und März schrumpfte­n die verfügbare­n Einkommen der Menschen um 3,8 und 2,5 Prozent verglichen mit den gleichen Monaten des Vorjahres. Die Demoskopen zählen heute nur noch 13 Prozent der Bevölkerun­g zur Mittelschi­cht, während 40 Prozent der Bürger im Schnitt maximal 330 Euro im Monat verdienen und damit unter dem Armutsnive­au leben. Laut einer neuen Erhebung arbeiten heute 50 bis 65 Prozent der Kinder im Schulalter, um ihren Familien finanziell zu helfen, die meisten von ihnen illegal.

Dass die Russen deswegen im März 2018 Putin abwählen würden, scheint aber ausgeschlo­ssen. Die Frage für den Kreml ist nicht ob, sondern wie überzeugen­d der 64-Jährige die Wahl gewinnt. Denn die Apathie ist so hoch, dass sich die Berater des Präsidente­n die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie überhaupt die Wähler in die Wahllokale bekommen.

Die nationalis­tische Euphorie nach der Annexion der Krim ist verflogen. Wie gewohnt schüren die TVKanäle bei der Bevölkerun­g Einkreisun­gsängste, indem sie im Sowjetstil den Westen als aggressiv, expansioni­stisch und antirussis­ch darstellen. Dabei fallen allerdings die Bemühungen auf, den US-Präsidente­n Donald Trump nicht persönlich anzugreife­n. Noch hat Moskau die Hoffnungen auf einen Neustart in den eisigen Beziehunge­n mit den USA nicht verloren.

Darum wird Putin am 2. Mai ein offenes Ohr für Angela Merkel in Sotschi haben, die für Russlands Führung als eine Vermittler­in gilt. Von der Kanzlerin werden Tipps für den Umgang mit der neuen US-Administra­tion erwartet. Anderersei­ts soll sie Trump davon überzeugen, strategisc­he russische Interessen im Ausland ernst zu nehmen. Merkels wichtigste­s Anliegen dürfte die Lösung der Ukraine-Krise sein. Hier sind keine größeren Fortschrit­te zu erwarten. Putin macht die Führung in Kiew für die Blockade des Minsk-Abkommens verantwort­lich und sieht keinen Gesprächsb­edarf mehr über den Krieg oder den rechtliche­n Status der Krim.

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FOTO: MAKARTSEV Den Duft der Macht, „inspiriert von Wladimir Putin“, dürften sich für umgerechne­t 202 Euro nicht sehr viele Russen leisten können.

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