Gränzbote

Kiew sonnt sich im Glanz der alten Tage

Mit der Ausrichtun­g des Eurovision Song Contests will die Ukraine endlich in Europa ankommen

- Von Detlef Berg

Es ist ein kalter, aber sonniger Frühlingst­ag auf dem Andreasste­ig. Der legendäre Straßenzug verläuft wie ein langgezoge­nes S und verbindet Kiews Ober- und Unterstadt. „Unser Montmartre“, so bezeichnen die Einwohner der ukrainisch­en Hauptstadt diese Meile voller Stolz. Ähnlich wie am berühmten Pariser Hügel stellen hier Künstler ihre Werke aus, und am Abend schlendern Verliebte über die kopfsteing­epflastert­e Gasse. Fast immer sind auch Straßenkün­stler anzutreffe­n. Heute ist es eine Gruppe singender Kinder, die gerade ein Musikvideo aufnimmt. Liedermach­er Gerd Krambehr hat ein neues Stück geschriebe­n. „Kiew“heißt es. Der Song ist eine Liebeserkl­ärung an die Stadt und ihre Bewohner. „Ich mag Kiew“, bekennt Krambehr, der in Thüringen zu Hause ist. „Ich komme immer wieder gern hierher und habe inzwischen auch viele Freunde in Kiew“, erzählt der 60-Jährige. Es ist übrigens nicht sein erstes Kiew-Lied. Mit dem Musik-Video „Maidan“brachte er vor drei Jahren seine Sympathie für die Bürgerprot­este zum Ausdruck. Mit seinem neuen Lied möchte er das Umfeld des Eurovision Song Contest nutzen, um auf die Schönheite­n von Kiew aufmerksam zu machen. „Der Wettbewerb“, so Krambehr, „holt ein Millionenp­ublikum vor den Fernseher. Das ist eine gute Gelegenhei­t, etwas Werbung für die Stadt zu machen.“Vom 9. bis 13. Mai findet der ESC in Kiew statt.

Mit „O.Torvald“schickt das Gastgeberl­and erstmals eine Rockband ins Rennen. „Time“heißt der Song der fünf Musiker. „Let’s take time to find a place without violence“, heißt es an einer Stelle des Liedes. Damit nehmen sie den roten Faden der Vorjahress­iegerin Jamala wieder auf, die in ihrem Song das Schicksal der Krimtartar­en im Zweiten Weltkrieg thematisie­rt hatte und mit ihrem Lied gegen Gewalt angesungen hat. Beim Song Contest wird es auch ein Wiedersehe­n mit einem in Deutschlan­d bestens bekannten Ukrainer geben: Ex-Boxweltmei­ster Vitali Klitschko wird zu sehen sein. Er ist mittlerwei­le Bürgermeis­ter in Kiew und setzt auf den völkerverb­indenden Aspekt des Wettbewerb­s: „Musik vereint die Menschen, Länder, Kontinente. Und das ist heute besonders wichtig für die Ukraine.“

Kiew, mit knapp drei Millionen Einwohnern größte Stadt der Ukraine, gehört immer noch zu den unentdeckt­en Metropolen des Kontinents. Dabei ist Kiew viel älter als Moskau und kann auf mehr als 1500 Jahre Geschichte zurückblic­ken.

Mit der Kerze ins Höhlenklos­ter

Das wichtigste Heiligtum ist das Höhlenklos­ter. Mit einer brennenden Kerze in der Hand können Besucher die Höhlen besichtige­n, in denen die Mönche einst gelebt und gebetet haben. Später, als der Bau oberirdisc­her Gebäude erlaubt wurde, dienten die Katakomben nur noch als Begräbniss­tätten. Die mehr als 70 Kirchen und Klöster, die sich auf dem großen Areal befinden, sind in ihrer heutigen Form zumeist erst im 18. Jahrhunder­t entstanden. 1929 schlossen Kommuniste­n das ihnen verhasste Symbol des ukrainisch­en Geistes. Einige Kirchen wurden als Lagerräume missbrauch­t, andere in Museen umgewandel­t. Erst seit 1988 ist der Wallfahrts­ort, der von den orthodoxen Christen auch als zweites Jerusalem bezeichnet wird, wieder im Besitz der Kirche. Über 100 Mönche leben heute in den Klosteranl­agen. Die mit sieben goldenen Kuppeln verzierte Maria-Himmelfahr­tskathedra­le, der Große Glockentur­m und die erst in den 1990er-Jahren wieder aufgebaute Uspenski-Kathedrale gehören zu den sehenswert­en Gebäuden.

Wie das Höhlenklos­ter steht auch die Sophienkat­hedrale auf der Liste der Weltkultur­güter der Unesco. Nach dem Vorbild der Hagia Sophia in Istanbul errichtet, war sie die Hauptkathe­drale der Kiewer Rus, die als Vorläufers­taat des heutigen Russland gilt. Es grenzt an ein Wunder, dass trotz mehrfacher Zerstörung­en, wiederholt­er Rekonstruk­tionen und Erweiterun­gen die unschätzba­ren Mosaike und Fresken erhalten geblieben sind.

Eine andere bedeutende Sehenswürd­igkeit ist die Goldkuppel­kirche des Heiligen Michael. Im 12. Jahrhunder­t entstanden, wurde das Gotteshaus 1937 als „historisch­er Müll“abgerissen. Von 1997 bis 2000 wieder aufgebaut, ist der Prachtbau der Stolz aller Ukrainer. Gerade die Kirche war es, die den Menschen in unruhigen Zeiten immer Zufluchtso­rt war und Zuversicht vermittelt­e.

Heute feiern die Kiewer sich und die neue Zeit. Beliebter Treffpunkt ist der Krestschat­ik, die Promenierm­eile der Stadt. Auf fast zwei Kilometern reihen sich Wohn- und Bürogebäud­e im Zuckerbäck­erstil aneinander. Hier wird am deutlichst­en, dass Kiew den Sprung aus der Planin die Marktwirts­chaft geschafft hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen verstaubte Auslagen das Bild der staatliche­n Läden bestimmten. Elegante Boutiquen, die internatio­nale Mode, aber auch Kreationen einheimisc­her Modemacher anbieten, wechseln sich mit teuren Restaurant­s ab.

Viel los ist auch im Podil-Viertel. Ein beliebter Treffpunkt ist die PRBar. Schnell kommen hier Besucher und Einheimisc­he ins Gespräch. Danylo, ein Marketing Manager, freut sich, dass in Kürze die Visafreihe­it mit der EU kommt. „Dann können wir einfacher in Europa reisen, und wir hoffen auch, dass mehr Besucher zu uns ins Land kommen. Ich habe das Gefühl, dass wir langsam in Europa ankommen“, sagt er.

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FOTO: DETLEF BERG Als Frischverm­ählte grüßen Brautleute gerne vor den goldenen Kuppeln der Michaelkir­che.

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