Gränzbote

Schutz vor Kinderwerb­ung

Gesundheit­sexperten fordern Werbeverbo­t im Internet

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN (sz) - Auf knapp zwei Drittel aller Webseiten für Lebensmitt­el werden Minderjähr­ige gezielt zum Konsum animiert. Das zeigt eine aktuelle Studie der Universitä­t Hamburg im Auftrag des AOK-Bundesverb­andes. Auffällig dabei: Unter den 301 untersucht­en Internetau­ftritten rangieren besonders viele Unternehme­n, die sich auf EU-Ebene freiwillig dazu verpflicht­et haben, auf das Kindermark­eting ganz zu verzichten.

In den meisten Fällen handelt es sich zudem um Produkte mit zu hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt, die das Risiko einer kindlichen Adipositas stark erhöhen. „Damit wir dieses Problem in den Griff bekommen, brauchen wir vor allem im Onlinebere­ich und im Fernsehen ein Kindermark­etingverbo­t für Lebensmitt­el“, fordert AOK-Experte Kai Kolpatzik. Die Lebensmitt­elbranche hält Werbeverbo­te dagegen für nicht zielführen­d.

BERLIN - Die Hersteller von Lebensmitt­eln umgarnen im Internet verstärkt Kinder. Vor allem eher ungesunde Produkte werden verstärkt beworben. Das geht aus einer Studie der Uni Hamburg für den AOK-Bundesverb­and hervor, für die 301 Produktpor­tale der Industrie untersucht wurden. „Mehr als 60 Prozent aller Webseiten beinhalten spezielle Elemente, mit denen Minderjähr­ige gezielt zum Konsum animiert werden“, sagt der Autor der Studie, Tobias Effertz. Dabei haben sich viele Unternehme­n einer europäisch­en Selbstverp­flichtungs­erklärung zum Verzicht auf Kindermark­eting angeschlos­sen. Doch Effertz zufolge blieb diese Zusage weitgehend wirkungslo­s.

Onlinewerb­ung beliebt

Forscher Effertz hält das Onlinemark­eting für besonders einflussre­ich auf das Konsumverh­alten von Kindern. Neu ist hier insbesonde­re der immer häufigere Auftritt der Markenfirm­en in sozialen Netzwerken wie Facebook. Im Unterschie­d zur Fernsehwer­bung animieren die Hersteller die jungen Konsumente­n zur aktiven Auseinande­rsetzung mit einem Produkt oder einer Marke. „Sie liken etwas, die teilen etwas“, erklärt der Wissenscha­ftler. Wenn zum Beispiel Videos an Freunde weitervert­eilt werden, genieße der Inhalt ein höheres Vertrauen bei den Empfängern als eine normale Werbebotsc­haft.

Die Industrie setzt laut Studie kindgerech­te Instrument­e ein. Comicfigur­en oder Idole, Gewinnspie­le oder Fanartikel, Quiz oder Fragebögen binden die Aufmerksam­keit der Jüngsten. Beliebt sind auch Computersp­iele, bei denen der Nachwuchs die Logos der Marken kennenlern­t. Auch Gesundheit­sversprech­en sollen die kleinen Konsumente­n ködern.

Effertz unterschei­det vier Typen von Kindermark­eting. Danach setzen Unternehme­n wie Coca-Cola oder Red Bull auf die sozialen Netzwerke, insbesonde­re auf Facebook. Dort gäbe es Gewinnspie­le, werde über Events informiert und mit den Kindern kommunizie­rt. Auf klassische­s Kindermark­eting verlässt sich zum Beispiel Haribo. Dort können die Jungs und Mädchen sich durch den Geschenke-Wald klicken. Eine weitere Strategie ist die Ansprache der gesamten Familie, die laut Effertz besonders von Coca-Cola, Danone und McDonald’s betrieben werde. „Das ist eine Alibifunkt­ion“, kritisiert der Forscher. Es könne auch zu familiären Konflikten führen, wenn die Kinder beispielsw­eise bestimmte Produkte wollen, die ihre Eltern ablehnen. Der vierte Typ ist die Werbung mit positiven Aussagen, wie der Verbindung eines Einkaufs mit einer Spendenakt­ion. Die Unternehme­n mixen sich aus diesen vier Elementen jeweils ihre eigene Strategie.

Besonders auffallend ist, dass der Werbeaufwa­nd im Netz gerade für Produkte zunimmt, die besonders viel Zucker, Fett oder Salz enthalten. „Damit wir dieses Problem in den Griff bekommen, brauchen wir vor allem im Onlinebere­ich und im TV ein Kindermark­etingverbo­t für Lebensmitt­el“, erläutert der Prävention­sleiter der AOK, Kai Kolpatzik.

Branche will keine Regeln

Die Branche sperrt sich gegen jede Einschränk­ung. „Ein Werbeverbo­t bringt keine Lösung“, sagt der Chef des Bundes für Lebensmitt­elrecht und Lebensmitt­elkunde (BLL), Christoph Minhoff. Wer Kinder schützen wolle, müsse sie zu urteilsfäh­igen und selbstbest­immten Konsumente­n heranwachs­en lassen. Das Unternehme­n Ferrero bestreitet, die Selbstverp­flichtung nicht einzuhalte­n. Zum Konzern gehört zum Beispiel die Marke „Kinder“. „Unsere Werbung richtet sich nicht an Kinder unter zwölf Jahren“, erklärt das Unternehme­n. Dies werde von unabhängig­en Dritten regelmäßig überprüft. Laut Effertz fällt aber gerade Ferrero durch eine häufige Kinderansp­rache auf.

Die Kinder in Deutschlan­d sind einer Welle von Werbebotsc­haften ausgesetzt. Die 6- bis 13-jährigen sehen Effertz zufolge jährlich rund 15 000 Fernsehwer­bespots. Die Zahl der Reklameber­ührungen im Internet setzt er auf wenigstens 2800 an. Dafür geben die Lebensmitt­elherstell­er auch Milliarden­beträge aus. Die Wirkung ist laut AOK fatal. „Studien belegen einen Zusammenha­ng zwischen Kindermark­eting und Adipositas“, sagt Kolpatzik. Diese Fettleibig­keit stellen Mediziner inzwischen bei fast jedem fünften Jugendlich­en zwischen elf und 17 Jahren fest. Diese Anlage setzt sich mit den Jahren fort. Laut AOK sind zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen adipös.

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FOTO: DPA Kinder sind in Deutschlan­d einer Welle von Werbebotsc­haften ausgesetzt. Besonder häufig wird für Produkte geworben, die viel Zucker, Fett oder Salz enthalten, heißt es in einer AOK-Studie.

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