Der Kampf um das seltene Jahr
Ebenbürtig mit den großen Bs geht Basketball-Primus Ulm in die Play-offs – und mit einem kleinen Vorteil
Er wisse nicht, „ob das zwei, drei Jahre nach meiner Karriere noch irgendwen interessiert, ob ich mal einen Titel gewonnen habe oder nicht, ich glaube eher nicht“, sagt Kapitän Per Günther. „Aber für die Stadt wird das eine Wahnsinnssache. Mit den Ulmern hier auf dem Münsterplatz eine Meisterschaft zu feiern, darüber mag man gar nicht nachdenken, so geil wäre das. Für den Verein, für alle. Wenn man überlegt, wo der Verein vor zehn Jahren stand und wo er jetzt steht – irre. Die Chance ist realistischer als je zuvor.“Keine Frage, da hat einer Blut geleckt.
Wenn die Ulmer Basketballer heute (16.45 Uhr) im ersten Viertelfinal-Duell gegen den Nachbarn Ludwigsburg ihren Angriff auf den ersten Meistertitel beginnen, wird viel Sehnsucht dabei sein, viel Vision und die Hoffnung einer ganzen Stadt. Oberbürgermeister Gunter Czisch lud am Dienstag das Team zum Fotoshooting mit dem vollständig vertretenen Gemeinderat ein und versuchte, noch einmal Mut zu machen. „Wir wollen der Mannschaft den letzten Schub ermöglichen und ihr den Rücken stärken“, sagte Czisch, der vermutlich ganz Ulm zur autofreien Zone erklären würde, würden die Basketballer Anfang Juni mit der begehrten Trophäe im offenen Wagen durch die Stadt brausen. „Normalerweise“, schmunzelte Trainer Thorsten Leibenath, „gibt es solche Empfänge erst nach einem Titel.“
Zu viel Euphorie kann auch zur Belastung werden, und vielleicht ist es ganz gut, dass die Ulmer, die mit wundersamen 30:2 Siegen durch die Punkterunde galoppierten, heute gleich mal auf ihren Quälgeist treffen. Im Januar hat Ludwigsburg den Ulmern im Pokal beim 72:67 die mit Abstand schmerzhafteste der wenigen Saison-Niederlagen zugefügt, vor acht Tagen legten die Riesen mit ihrem Ass Jack Cooley in der Liga beim 79:61 noch einmal nach. Die Ulmer sind also gewarnt, als Angstgegner allerdings betrachten sie den Vorrundenachten nicht. „Ich würde hier gern noch mal spielen um zu zeigen, dass wir auch in Ludwigsburg gewinnen können“, sagte Nationalspieler Karsten Tadda letzten Samstag, auch Trainer Leibenath will nicht zu devot sein: „Wir wissen, wie wir Ludwigsburg schlagen können, und Ludwigsburg hat gezeigt, wie sie uns schlagen können. Wir sollten die nächsten Wochen genießen – mit Stolz auf das Erreichte und mit Hunger für das Mögliche.“
Tatsächlich ist alles möglich für die Ulmer, die nach einer imposanten Punkterunde in den wichtigsten Bereichen die Besten sind. Sie haben die meisten Punkte erzielt (92 im Schnitt) und Rebounds (38), sie haben die wenigsten Ballverluste (11) und Fouls kassiert (18,5). Sie haben sich vom siebten Platz nach der Hauptrunde 2016 zuerst zur Vize-Meisterschaft und nun mit 27 Siegen in Serie zu deutschen Rekordhaltern aufgeschwungen. Mit einem fast unveränderten, allerdings sehr speziellen Basketball-Team. „Ulm ist auf jeder Position fast gleich groß. Dadurch ist die Mannschaft in der Lage, extrem variabel zu spielen. Jeder Spieler kann mehrere Positionen übernehmen, offensiv wie defensiv. Auch deshalb macht es viel Spaß, dem modernen Ulmer Basketball zuzuschauen“, lobt Ex-Nationalspieler Stephan Baeck im Magazin „Big“.
Günther: Mein Ego zurücklassen
Und doch wird es in den Play-offs zuvorderst auf drei Protagonisten ankommen: Günther, den Mitreißer und Fanliebling, Raymar Morgan, den besten Schützen der Liga, der vor der Partie zum wertvollsten Spieler der Liga gekürt werden dürfte, und auf ihren Trainer, der auch dem letzten Kritiker gezeigt hat, dass er ein Team entwickeln kann. Pünktlich zum Play-offStart wurde der 42-Jährige am Freitag nach fünf Jahren wieder zum „Trainer des Jahres“gekürt, eine Auszeichnung, die er für glatte 3:0- Durchmärsche im Viertelfinale und im Halbfinale sicher gerne tauschen würde. Kräftesparen vor dem Finale, das dürfte das Ulmer Ziel sein im Fernduell mit den großen Bs, Titelverteidiger Bamberg und Bayern, die sich im Halbfinale gerne eine Fünf-Spiele-Schlacht liefern dürfen.
Siebzehn Partien mehr als Ulm hat Bamberg in dieser Saison durch die EuroLeague bestritten, München immerhin fünf, die Fitness könnte Ulms entscheidender Vorteil werden. Ob Center Tim Ohlbrecht in möglichen Finals wieder fit ist, steht zwar weiter in den Sternen. Beim monatelang am Rücken lädierten Günther, im Vorjahr der überragende Mann, gibt es immerhin noch Reserven. Braydon Hobbs hat dem Spielmacher in der Pre-Season den Rang abgelaufen, erstmals in seinen acht Ulmer Jahren war Günther der Ersatz und kam zuweilen nur auf zehn Minuten Spielzeit. „Ich muss mein Ego hinter mir lassen, die Rolle ausfüllen, die ich jetzt habe und nicht der hinterherweinen, die ich mal hatte“, räumt Günther ein. Körperlich sei er noch immer nicht bei 100 Prozent, „ich kann momentan nicht den Basketball spielen, den ich von mir erwarte. Ich weiß aber auch, dass wieder Spiele kommen werden, wo ich eine dominante Rolle einnehme.“
Die hat bei den Ulmern längst Raymar Morgan inne. Der 28-Jährige aus Ohio (18,1 Punkte im Schnitt) wurde gerade zum effektivsten Legionär der Liga gewählt und vor Mitspieler Chris Babb auch zum offensivstärksten Spieler. Günther sagt, Morgan sei von keinem in der Liga zu verteidigen. „Seine Athletik ist unglaublich, versuche mal, einen Clip zu finden, auf dem ihm ein Guard aus dem Dribbling schlägt. Nein warte, spar’s dir, den wirst du nicht finden.“Traurige Folge: Morgan, da muss man kein Prophet sein, wird nur noch bis Juni in Ulm spielen. Auch wenn seine Frau schwanger ist und Ortswechsel in so einer Lage unbequem sind – EuroLeague-, vielleicht auch NBATeams dürften sich um Morgan reißen und ihm unwiderstehliche Angebote machen. Für Babb gilt Ähnliches.
Das Ulmer Traumteam dürfte im Herbst passé sein, es wird also Zeit, die Ernte einzufahren. „Ein oder zwei Jahre läuft mal alles zusammen und man weiß, dass was gehen könnte. Solche Jahre sind selten“, sagt Per Günther. „Dieses Jahr ist eines.“