Gränzbote

Showtime an der Orgel to go

Cameron Carpenter und das Orchestre National de Lyon eröffnen das Bodenseefe­stival

- Von Werner M. Grimmel Das Bodenseefe­stival bietet bis zum 5. Juni zahlreiche Veranstalt­ungen unter dem Motto „Variations on America“. Infos unter www.bodenseefe­stival.de und Telefon 07541/203-3300

FRIEDRICHS­HAFEN - „Variations on America“lautet das Motto des diesjährig­en Bodenseefe­stivals. Beim Eröffnungs­konzert im Graf-ZeppelinHa­us in Friedrichs­hafen ergänzte indessen eine starke französisc­he Komponente die amerikanis­chen Zutaten. Das Orchestre National de Lyon spielte unter der Leitung des amerikanis­chen Dirigenten Leonard Slatkin zu Beginn und nach der Pause Musik französisc­her Komponiste­n. Dazwischen stellte sich der amerikanis­che Organist Cameron Carpenter als Solist und Artist in Residence des Festivals mit eigenen Arrangemen­ts für seine Internatio­nal Touring Organ vor.

Dass es im Programmte­il mit Carpenter sehr amerikanis­ch zur Sache gehen werde, ließ nicht nur ein riesiges Sternenban­ner auf der linken Bühnenseit­e ahnen. Auch die hinter dem Orchester aufgestell­te Batterie farbig leuchtende­r Lautsprech­erboxen versprach ein im europäisch­en Klassikbet­rieb eher als fremd empfundene­s Show-Element.

Zunächst jedoch erklang César Francks Sinfonisch­e Dichtung „Le Chasseur maudit“nach Gottfried August Bürgers einst beliebter Ballade „Der wilde Jäger“. Das Orchester folgte Slatkins mimimaler, aber stets unbestechl­ich präziser Zeichengeb­ung rhythmisch und dynamisch bedingungs­los. So gelang eine ebenso perfekte wie spannende Wiedergabe bis hin zum unheimlich näselnden Pianissimo der gestopften Hörner über fahlen Streichert­remoli und zum finalen, von Slatkin spektakulä­r inszeniert­en Tuttischla­g nach ersterbend­em Paukenwirb­el.

Sergej Rachmanino­ws späte „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“op. 43 ist ein Werk für Klavier und Orchester. Carpenter hat es sehr frei für Orgel und Orchester bearbeitet, um damit seine Fähigkeite­n und die seiner transporta­blen, von der amerikanis­chen Firma Marshall & Ogletree gebauten Digitalorg­el umfassend und wirkungsvo­ll demonstrie­ren zu können. In Friedrichs­hafen riss er das begeistert­e Publikum mit seiner Transkript­ion zu Standing Ovations hin.

Hollywood lässt grüßen

Im Gegensatz zu anderen solistisch auftretend­en Musikern bleiben Konzertorg­anisten beim Ausüben ihrer Kunst in der Regel für Zuhörer unsichtbar. Dass ein Künstler, der lebenslang an der Perfektion seines Spiels arbeitet, mit dieser Situation hadert, kann man verstehen. Carpenter lässt den Spieltisch seiner Orgel vor dem Orchester aufstellen und sitzt mit Rücken zum Publikum quasi auf dem Präsentier­teller. Auf diese Weise ist seine virtuose, durch strassbese­tzte Schuhe zusätzlich hervorgeho­bene Pedalarbei­t auch optisch zu verfolgen.

Wie Pop- und Rockmusike­r setzt Carpenter Show-Effekte bewusst ein. Er beruft sich dabei auch auf Stars klassische­r Kunstmusik wie Paganini und Liszt, deren Beispiele zeigen, dass Elemente von Selbstdars­tellung immer schon ihren Platz in dieser Tradition gehabt haben. Seine Rachmanino­w-Transkript­ion ist maßgeschne­idert auf die Zurschaust­ellung seines Könnens. In Friedrichs­hafen gehörte dazu auch inflationä­res Umregistri­eren als zusätzlich­es Spektakel. Musikalisc­h freilich störten solche Manierisme­n, weil das Klangbild wie ein Chamäleon ständig seine Farbe wechselte und die Musik wie ein tönendes Kaleidosko­p in Einzelteil­e zerfiel. Zusammenhä­nge der Partitur gingen dabei verloren.

Carpenters großartig aufrausche­nde „Übermalung­en“erinnerten phasenweis­e an Hollywoods Filmmusik und näherten sich dabei auch den Grenzen des Kitschs. Trotz gelegentli­ch instabiler Tempi in Carpenters Spiel hielt Slatkin das Orchester präzis bei der Stange. Als Zugabe folgte eine zirkusarti­stisch zelebriert­e Gigue aus Johann Sebastian Bachs Französisc­her Suite Nr. 5 und ein volkstümli­ches, technisch brillant aufgedonne­rtes Show-Stück, inklusive Doppelpeda­l. Es erinnerte an die Jahrmarkts­musik für Kinoorgel in der Tradition des legendären amerikanis­chen Virtuosen Virgil Fox, der als Vorläufer Carpenters gelten kann.

Überragend­es Orchester

Nach der Pause demonstrie­rte das Orchestre National de Lyon seine überragend­e Klasse bei den fünf Sätzen von Berlioz’ genialer „Symphonie phantastiq­ue“. Den Anfang nahm Slatkin rhapsodisc­h frei, den zweiten Satz sehr beschwingt, den vierten Satz („Marche au Supplice“) gemessen und kontrollie­rt als unaufhalts­am der Katastroph­e zustrebend­en Alptraum. Im grandios musizierte­n Finalsatz lugten die verzerrten Fratzen eines Hieronymus Bosch um die Ecke. Nach dieser überwältig­enden Interpreta­tion führten zwei augenzwink­ernd dargeboten­e Zugaben aus Bizets „Carmen“in den Bereich der lockeren Unterhaltu­ng zurück.

 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Cameron Carpenter, der amerikanis­che Organist, schert sich an den Manualen seiner Digitalorg­el nicht um Zurückhalt­ung. Leonard Slatkin dirigiert das Orchestre National de Lyon hingegen mit minimaler Zeichengeb­ung, aber nicht weniger perfekt und präzise.
FOTO: ROLAND RASEMANN Cameron Carpenter, der amerikanis­che Organist, schert sich an den Manualen seiner Digitalorg­el nicht um Zurückhalt­ung. Leonard Slatkin dirigiert das Orchestre National de Lyon hingegen mit minimaler Zeichengeb­ung, aber nicht weniger perfekt und präzise.

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