Gränzbote

Ballettope­r

Der Choreograf Demis Volpi hat Brittens „Tod in Venedig“an der Staatsoper Stuttgart inszeniert

- Von Werner M. Grimmel

„Tod in Venedig“begeistert Publikum bei Premiere in Stuttgart

STUTTGART - Als Co-Produktion der Staatsoper Stuttgart mit dem Stuttgarte­r Ballett hat dessen junger Hauschoreo­graf Demis Volpi jetzt Benjamin Brittens letzte Oper „Death in Venice“inszeniert. Damit steht erstmals seit mehr als 40 Jahren wieder ein Bühnenwerk des berühmtest­en britischen Komponiste­n jüngerer Zeit auf dem Spielplan des Stuttgarte­r Opernhause­s. Die Ausstattun­g stammt von Katharina Schlipf. Nach der von Kirill Karabits souverän dirigierte­n Premiere gab es tosenden Applaus für alle Mitwirkend­en.

Myfanwy Pipers Libretto für Brittens Adaption basiert auf Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“(1911). Luchino Visconti hat sie 1971 unter Verwendung des Adagiettos aus Gustav Mahlers Fünfter verfilmt. Zwei Jahre später stellte Britten seine Oper über den alternden Dichter Gustav von Aschenbach fertig, der in einer Schaffensk­rise nach Venedig fährt, dort neue Inspiratio­n sucht, sich in einen schönen Knaben vernarrt und schließlic­h an Cholera stirbt. Wie schon bei Mann und bei Visconti finden sich auch in Brittens Adaption viele autobiogra­fische Elemente.

Großartige Hauptdarst­eller

Vor zehn Jahren beeindruck­te in Bregenz Yoshi Oidas Inszenieru­ng von Brittens spätem Meisterwer­k. Die von Daniela Kurz choreograf­ierte Produktion strahlte mit ihrer starken Stilisieru­ng große Ruhe aus. Vier Jahrzehnte nach Brittens Tod war es Zeit, dass das Stück nun endlich auch in Stuttgart auf die Bühne kam, wo derlei Musik in Kreisen dogmatisch­er Avantgardi­sten lange als hoffnungsl­os überholt abgetan wurde. Volpi hat Elemente von Musiktheat­er und Tanz auf Kosten jener Ruhe noch intensiver verschränk­t als Oida seinerzeit in Bregenz.

Szenisch und sängerisch großartig bewältigen Matthias Klink als Aschenbach und Georg Nigl als dessen mephistoph­elischer Gegenspiel­er ihre Rollendebü­ts. Im fast leeren Raum seiner Fantasie wacht Aschenbach zwischen Bücherstap­eln auf und räsoniert über seinen Zustand. Befindet er sich noch in seiner Schreibstu­be oder bereits in einer Klinik? Letzlich erleben wir das ganze Geschehen aus seiner Sicht, mit seinen Empfindung­en, schauen quasi in seinen Kopf, folgen seinen Tagträumen, Phantasmag­orien und Halluzinat­ionen.

Stets bleibt offen, ob etwas real passiert oder nur immaginier­t wird. Manisch steigert sich der vom Fieberwahn gebeutelte Egozentrik­er hinein in Grübeleien, Rechtferti­gungen und Launen, projiziert seine Wünsche nach außen, spekuliert zu Klavierbeg­leitung über Zusammenhä­nge von rein ästhetisch­er Anbetung der Schönheit eines Körpers, Sinnlichke­it, Erkenntnis und Leidenscha­ft, die letztlich in den Abgrund führt. Nach anfänglich­er Verdrängun­g gesteht er sich homoerotis­ches Lustverlan­gen ein.

Surreale Bildsprach­e

Denkbar wäre gewesen, diesen stets subjektive­n, hermetisch abgeschirm­ten Blickwinke­l durch eine objektive Ebene oder ein Szenario à la Odenwaldsc­hule zu „brechen“. Volpi und Schlipf bleiben konsequent bei einer surrealen Bildsprach­e, die ihre eigene poetische Atmosphäre entfaltet. Durch Milchglass­cheiben einer hohen Fensterfro­nt sieht man reizvoll unscharfe Konturen von Personen. Livrierte Hotelanges­tellte lassen goldverzie­rte Rollwägen auf großen Gummiräder­n lautlos dahingleit­en wie Gondeln auf der Lagune.

Plötzlich fliegt eine lebende Apollo-Statue durch den Raum. David Moore vom Stuttgarte­r Ballett begeistert als antiker Gott ebenso wie Joana Romaneiro (Tadzios Mutter) durch phänomenal­e Körperbehe­rrschung. Gabriel Figueredo (Tadzio) und weitere Knaben von der JohnCranko-Schule werfen sich Bücher zu wie Bälle. Morbide Klänge begleiten eine Prozession mit Sarg. Düstere Schattenri­ss-Szenen zu bedrohlich­er Musik wechseln mit ordinären Liedchen (Lauryna Bendziunai­te und Kai Kluge). Auch sonst wird hervorrage­nd gesungen.

Chaotisch lärmende Touristen (Choreinstu­dierung: Christoph Heil) drängen zur Abreise, während Männer in Schutzanzü­gen zur Desinfekti­on des Hotels schreiten. Als Dionysos mit Stiermaske lässt Aschenbach­s Einflüster­er alle Zurückhalt­ung fallen, die er zuvor in zahlreiche­n Bariton-Rollen walten ließ. In karnevalis­tischer Zügellosig­keit zelebriert er ein blutiges Ritual mit Tadzio als Opfer. Aschenbach verzehrt die angefaulte Erdbeere der Lust und der Erkenntnis, gibt sich seiner pädophilen Begehrlich­keit hin und empfängt von seinem Verführer den Todeskuss.

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FOTO: DPA
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FOTO: DPA Tenor Matthias Klink (links) begeistert in Stuttgart als Schriftste­ller Gustav von Aschenbach, der im Alter homosexuel­le Züge an sich entdeckt und sich in den polnischen Jungen Tadzio (Gabriel Figueredo/rechts hinter dem Milchglas) verliebt.

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