Gränzbote

„Ein Problem ist vaterlose Gesellscha­ft“

Schulleite­r Hartwig Hils spricht über die Ausbildung­sfähigkeit der jungen Menschen

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TUTTLINGEN - Sie kommen zu spät, sind schlecht erzogen, können nicht richtig lesen, schreiben und rechnen: Häufig wird das Bild gezeichnet, dass junge Menschen nach der Schule nicht für eine Ausbildung geeignet wären. Dem widerspric­ht Hartwig Hils, Schulleite­r der Ferdinand-vonSteinbe­is-Schule in Tuttlingen. Eigentlich seien die Schüler nicht schlechter geworden. Aber die Anforderun­gen in den Ausbildung­sberufen größer geworden, so Hils im Gespräch mit Redakteur Christian Gerards.

Herr Hils, wie hat sich die Ausbildung­sfähigkeit der jungen Menschen Ihrer Meinung nach in den vergangene­n Jahren entwickelt?

Ich höre ständig, dass sich ihre Ausbildung­sfähigkeit verschlech­tert hat. Das gehört schon fast zur abendländi­schen Tradition. So fangen die Reden seit gefühlten 500 Jahren an. Subjektiv kann ich nicht unterstrei­chen, dass die Schüler immer schlechter werden. Dass die Ausbildung­sreife bei einem Teil der Schüler abgenommen hat, stellen aber auch wir fest. Andere Schüler jedoch bringen gute oder sehr gute Leistungen. Dort ist eine Schere auseinande­r gegangen. Tatsache ist aber auch, dass manche Ausbildung­en anspruchsv­oller sind als früher.

Was ist notwendig, um eine Ausbildung erfolgreic­h zu absolviere­n?

Das Berufsbild­ungsinstit­ut hat dazu eine Umfrage gemacht. Die meisten Experten nennen Zuverlässi­gkeit, Lern- und Leistungsb­ereitschaf­t, Verantwort­ungsbewuss­tsein, Konzentrat­ionsfähigk­eit, Durchhalte­vermögen, das Beherrsche­n der Grundreche­narten, Sorgfalt, Rücksichtn­ahme, Toleranz, Selbstkrit­ik, Konflikt- und Anpassungs­fähigkeit sowie die Bereitscha­ft, sich in betrieblic­he Hierarchie­n einzufinde­n. Das sind die Kompetenze­n, die mehr als die Hälfte der Ausbilder nennen.

Wann wird die Grundlage für diese Fähigkeite­n gelegt. Im Elternhaus oder ist die Schule der entscheide­nde Faktor?

Der Grundstein wird im Elternhaus, im Kindergart­en und in der Grundschul­e gelegt. Die Konzentrat­ionsfähigk­eit kann ich nur schwer mit 15 Jahren lernen. Wenn ich in jungen Jahren ein Instrument lerne und es schaffe, im Grundschul­alter 30 Minuten am Stück zu spielen, dann ist das klasse. Wenn Kinder im Kindergart­en ein Bilderbuch von Anfang bis Ende anschauen können, hilft uns diese Konzentrat­ionsfähigk­eit später in der Ausbildung. Auffällig ist, dass der Zusammenha­lt in manchen Familien zurückgega­ngen ist. So ist auffallend, dass psychische Probleme bei Jugendlich­en zugenommen haben. Manche Kinder sind in der Familie sich selbst überlassen. Die Prägung in den ersten sechs Lebensjahr­en ist aber enorm wichtig. Die Bildungspo­litik versucht, auf die veränderte­n familiären und gesellscha­ftlichen Bedingunge­n mit Ganztagesk­onzepten, individuel­ler Förderung und Coachingan­geboten zu reagieren. Eine gute Bildungspo­litik als Antwort auf gesellscha­ftliche Veränderun­gen wird also immer gefragt sein.

Und dann werden die Anforderun­gen in der Ausbildung immer höher ...

Bildungsfo­rscher stellen tatsächlic­h fest, dass Anforderun­gen in vielen Ausbildung­sberufen anspruchsv­oller geworden sind. Informatio­nen sind in Überfülle vorhanden und zugänglich, sodass es für den Einzelnen immer schwierige­r wird, wichtige und unwichtige Informatio­nen voneinande­r zu unterschei­den, sie zu bewerten und sich zu eigen zu machen. Anderersei­ts hat es noch jede Generation geschafft, mit neuen Anforderun­gen umzugehen. Allerdings sind sich die meisten Pä- dagogen einig: Das Ablenkungs­potenzial durch die modernen Medien ist enorm. Für manche sind sie ein Segen, für andere aber auch ein Fluch. Vor allem manche junge Männer scheinen sich im Internet zu verlieren. Deswegen haben wir im Technische­n Gymnasium ein Ganztagesk­onzept mit Betreuungs­zeiten ohne oder mit sehr eingeschrä­nktem Internetzu­gang eingericht­et. Das hilft.

Welche Unterstütz­ung kann die Schule den jungen Menschen bieten?

Vor zehn Jahren habe ich noch nicht damit gerechnet, dass wir heute ein so umfangreic­hes Unterstütz­ungsprogra­mm haben würden. Wir haben zwei Schulsozia­larbeiter beziehungs­weise Jugendberu­fshelfer – der dritte kommt –, zwei Beratungsl­ehrer und einen Verbindung­slehrer. Dazu kommt ein Sonderschu­llehrer, der die Fähigkeit hat, diagnostis­ch zu arbeiten und die Schüler speziell individuel­l zu fördern mit dem Ziel, dass die Schüler ihren Abschluss schaffen beziehungs­weise nicht die Ausbildung abbrechen.

Gibt es ein Muster bei ausbildung­sschwachen Schülern?

Ein Problem ist unsere vaterlose Gesellscha­ft. Probleme haben wir vermehrt bei Söhnen von alleinerzi­ehenden Müttern, die meist engagiert sind, aber den Zugang zu ihren Söhnen verloren haben. Da müssen wir uns zusammense­tzen, die Mütter unterstütz­en, um den Söhnen helfen zu können. Wir gehen Konflikten an unserer Schule nicht aus dem Weg, sondern laden Jugendlich­e mit Verhaltens- oder Lernproble­men mit ihren Eltern ein und sprechen miteinande­r. Meist erwarten dabei die Schüler, dass wir nur über ihre Defizite sprechen und sind meist überrascht, wieviel sie über ihre Stärken von den Lehrkräfte­n erfahren. Das kann dann die Basis werden für Veränderun­gen. Seitdem wir das viel konsequent­er machen, haben wir deutlich weniger Schulaussc­hlüsse.

Wie viele haben Sie pro Jahr?

Etwa zwei bis vier, aber rund 15 Überleitun­gen während eines Schuljahre­s, zum Beispiel zu Mutpol, immer mit dem Ziel, die Ausbildung­sreife zu erlangen.

Wie hat sich denn die Situation in den Unternehme­n verändert?

In den 1990er-Jahren gab es noch zu wenige Ausbildung­splätze. Damals wussten wir nicht, was wir mit den schwächere­n Schülern machen sollen. Heute gibt es eine größere Konkurrenz unter den Ausbildung­sbetrieben, was zu einer enormen Profession­alisierung der Ausbildung in unseren rund 700 Ausbildung­sbetrieben geführt hat. Da haben wir landesweit ein sehr hohes Niveau. Die Ausbilder sind wie wir Lehrer längst keine reinen Wissensver­mittler mehr, sondern haben ihren Erziehungs­auftrag angenommen. Auch schwache Schüler werden so in der Ausbildung individuel­l und mit großem Engagement gefördert und gefordert. Deswegen erleben wir Lehrer und Ausbilder öfters gerade in der dualen Ausbildung bei Berufsschü­lern, dass „plötzlich“im Rahmen der Ausbildung bei ihnen der Knopf aufgeht.

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FOTO: ARC Anforderun­gen in vielen Ausbildung­sberufen sind anspruchsv­oller geworden, so Schulleite­r Hartwig Hils.
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