Bedrohte Türkei baut Wagenburg
Pawelka: „Deutschland ist an der Entwicklung zumindest mitschuldig und die EU auch“
TUTTLINGEN - Historische Phasen, wirtschaftliche Entwicklungen und deren politische Konsequenzen: Mit diesem Analyse-Instrumentarium nähert sich der emeritierte Tübinger Politikprofessor Peter Pawelka der Türkei. Damit steht er im direkten Gegensatz zur aufgeregten personalisierten Debatte in Deutschland und Europa. Um es vorweg zu nehmen: Seine logische Analyse ließ mit Sicherheit bei vielen der gut 180 Zuhörer im Tuttlinger Campus ein ungutes Gemisch aus Empörung, Halbwissen und Furcht verpuffen.
Die Entwicklung der Türkei von Atatürk 1923 bis hin zum Volksentscheid vom April, der den Demokratisierungsprozess des Landes beendete, bezeichnete Pawelka auch als Verschiebung der herrschenden Eliten und ihrer wirtschaftlichen Basis. Sich auf eine Person, Erdogan, zu konzentrieren, lenke von der Notwendigkeit ab, komplexe Strukturen und Zusammenhänge zu analysieren.
Seit Beginn 1923 habe der türkische Staat wirtschaftlich eine bedeutende Rolle, indem er eine kapitalistische Unternehmerklasse geschaffen und gefördert, Freiräume für den Aufbau von Industriestrukturen betrieben, die Wirtschaft zuerst auf einen Binnenmarkt getrieben und sie dann auf den Weltmarkt gezwungen hat. 60 Jahre lang hätten die Kemalisten diesen Prozess vorangetrieben.
Nach der Krise Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die mittelständische Industrie Anatoliens mit ihrem politischen Arm, der AKP die Macht erkämpft. Erstmals nicht die Eliten, die im Westen der Türkei ihre Basis hatten und haben. Bei fünf Prozent Wirtschaftswachstum im gesamten Land, schaffte es davon das anatolische Kernland mit den „Anatolischen Tigern“wie Kayseri, Konya und anderen mit teils mit modernster Robotertechnik hergestellten Konsumgütern auf ein Wachstum von 15 Prozent. Der griffige Begriff „anatolische Calvinisten“umschreibt das Wirtschaftsverhalten: fromm, sparsam, investitionsfreudig, arbeitsam, liberal-kapitalistisch und skeptisch gegenüber dem Zentralstaat.
Erdogan: Charismatischer Führer
Der Markt, auf dem die Produkte abgesetzt werden, deckt sich in etwa mit dem des früheren osmanischen Reiches. Das bedeutet, sowohl wirtschaftlich, als auch in Abgrenzung gegen die bisher herrschenden Kemalisten bot sich der Rückbezug auf das osmanische Reich an; die WeltSupermacht des 16. Jahrhunderts.
Allerdings ist das osmanische Reich nicht nur in der Koalition mit dem Kaiserreich Deutschland zugrunde gegangen, sondern an seinen vielen Minderheiten. Auch heute sei der harte Kern der Sunniten nur 55 Prozent. Trotzdem hatte sich die AKP-Regierung zu Beginn den Minderheiten, vor allem Kurden und Aleviten – zwischen 25 und 35 Prozent der Bevölkerung – geöffnet. Deshalb schaffte die HDP, ein Zusammenschluss von Minderheiten und anderen auf Anhieb 13 Prozent.
Doch mit Syrien und den kurdischen Autonomiebestrebungen drehte sich der Wind: Die Befürchtung, der türkische Staat könne auseinanderbrechen, ließen die Politik – Stichwort Wagenburg – in den Rückgriff auf den orientalischen Zentralstaat münden.
Das, was als demokratische Reform gewertet wurde, nämlich die Entmachtung des Militärs und der Justiz schon lange vor dem versuchten Putsch 2016 und in den anschließenden „Säuberungen“, zeige sich als Schwächung der Kemalisten. Nach dem Putsch wurden sie systematisch aus Militär, Wissenschaft, Bürokratie und Justiz entfernt.
Die Konzentration der Macht auf einen starken, charismatischen Führer sei zu interpretieren als strukturelle Abwehrreaktion des türkischen Systems gegenüber der Gefahr des Zerfalls, einer geostrategischen Isolation durch die unkalkulierbare Krisenregion im Süden, einem expandierenden Russland und einer unkalkulierbaren Nato sowie einer krisengebeutelten EU, die nicht in das Machtvakuum vorgestoßen sei, das die USA hinterlassen habe. Die Türkei habe sich immer als treuer Freund Deutschlands gesehen, jetzt fühlte sie sich in ihrer Existenz bedroht. Und Deutschland? Pawelka: „Deutschland ist an der Entwicklung zumindest mitschuldig und die EU auch.“