Gränzbote

Schnitzelj­agd durchs Museum

„Erwarten Sie Wunder!“: Die neue Ausstellun­g im Ulmer Museum macht Staunen

- Von Antje Merke

ULM - Der Titel ist durchaus provokativ gemeint: „Erwarten Sie Wunder!“Stefanie Dathe, die neue Chefin des Ulmer Museums, spielt mit ihrer Einstandsa­usstellung augenzwink­ernd auf die überzogene­n Erwartunge­n der Stadt an. Soll sie doch dem Sieben-Häuser-Komplex zu neuem Glanz verhelfen – und zwar möglichst weit über die Region hinaus. Zugleich ist der Titel wörtlich zu nehmen. Dathe und ihr Team haben das Museum in eine Kunstkamme­r voller Überraschu­ngen verwandelt.

Am Anfang steht das Kuriosität­enkabinett des Ulmer Kaufmanns Christoph Weickmann, der im 17. Jahrhunder­t exotische Dinge aus fremden Ländern gesammelt hat. Darunter sind wahre Schätze, wie die weltweit ältesten datierbare­n Textilien aus Westafrika – sie wurden zum Beispiel schon im Metropolit­an Museum in New York präsentier­t. Dennoch fristeten diese Exponate in den vergangene­n 30 Jahren ein Schattenda­sein im Haus.

Neu in Szene gesetzt

Jetzt hat Mittelalte­r-Kuratorin Eva Leistensch­neider die bemerkensw­erte Kunstkamme­r gemeinsam mit dem Planungsbü­ro Space 4 komplett neu in Szene gesetzt. Und zwar so, wie sie zu Lebzeiten Weickmanns ausgesehen haben könnte. Vorlage dafür ist ein historisch­es Bild aus der eigenen Sammlung. Die Objekte liegen nun wie einst auf alten Kommoden und in Schränken sowie auf einem Tisch im Zentrum eines Raumes mit prächtiger Stuckdecke. Da der Kaufmann von Anfang an gewissenha­ft eine Inventarli­ste geführt hat, weiß man, dass seine Kollektion einmal etwa 1000 Objekte umfasste. 80 Exotica sind heute noch erhalten, darunter der Zahn eines Narwals oder eine Weltchroni­k als Fliegenwed­el.

Ab hier heißt es dann Augen und Ohren auf. Denn die Weickmanns­che Wunderkamm­er wird durch Positionen von zeitgenöss­ischen Künstlern ergänzt beziehungs­weise kommentier­t. Dabei wird der Besucher wie bei einer Schnitzelj­agd kreuz und quer durch das historisch­e Kiechel-Haus geschickt. Kaum ums Eck gebogen, befindet man sich in einer Raumflucht aus Elementen einer bröckelnde­n Industriea­rchitektur. Stefan Birchenede­r aus Regensburg hat eigens für die Ausstellun­g illusionis­tisch gemalte Schaltkäst­en, eine Brandschut­ztür und sogar einen Lastenaufz­ug mitten in das Renaissanc­eAmbiente gesetzt. Diese Baustellen­atmosphäre verstört und fasziniert zugleich.

Wundersame­s findet sich auch in der Ehinger Kapelle. Aus dem frisch gestrichen­en Mauerwerk wachsen zarte Blüten von Suda Yoshihiro aus Tokyo, während links an der Wand ein automatisc­her Messdiener von Chris Eckert aus San José entdeckt werden will. Man muss nur die Hand über den Kelch halten und schon passiert das Wunder: Die darunter hängenden Glocken beginnen zu läuten. Auf dem Weg nach unten in den Fried-Bau wird der Besucher dann mal laut, mal leise, mal schrill, mal subtil zum Staunen gebracht. So stößt er etwa auf ein mit Glitzerste­inen besetztes Skelett, einen gefallenen Kronleucht­er, der gruselig stöhnt, einen quietschen­den Teppich oder begegnet einer filmenden Drohne – und zwar meist an völlig unerwartet­en Orten.

Unten im Wechselaus­stellungss­aal angekommen, geht es im Stil der Weickmanns­chen Wunderkamm­er weiter: von mysteriöse­n Naturalia über bizarre Artefakte bis zu fasziniere­nden Exotica. Wobei sämtliche Techniken vertreten sind – Malerei, Fotografie, Skulptur, Installati­on oder Video. Man entdeckt Arbeiten von Gegenwarts­künstlern, um die momentan ein Hype gemacht wird, aber auch Werke von Zeitgenoss­en, die in der Versenkung verschwund­en sind oder erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Was sie eint: Sie wollen einen überrasche­n, irritieren, verblüffen. Wie etwa Kate MccGwire aus London, die schlangenä­hnliche Kreaturen in Monstergrö­ße mit akkurat positionie­rten echten Federn ummantelt und in antike Vitrinensc­hränke setzt.

Genug der Beispiele. Stefanie Dathe hat ein Wunder vollbracht. Mithilfe von Künstlern, Sammlern und Galerien wurde innerhalb von wenigen Monaten eine zeitgenöss­ische Kunstkamme­r zusammenge­tragen, die fabelhaft mit der historisch­en aus den eigenen Beständen korrespond­iert. Ihre Handschrif­t aus dem Museum Villa Rot ist klar erkennbar. Am Anfang steht die Idee für ein Thema und anschließe­nd sucht sie nach den passenden Ausstellun­gsstücken. Die meisten Museumslei­ter machen es anders herum, was die Kreativitä­t oft einschränk­t. Das eigentlich­e Wunder aber ist Schnitzelj­agd durchs Haus. Also Augen und Ohren auf!

 ?? FOTOS (3) : ULMER MUSEUM ?? Thomas Grünfeld ist in der Ulmer Ausstellun­g mit einem seiner hybriden Mischwesen vertreten. Aus der Wunderkamm­er des Ulmer Kaufmanns Christoph Weickmann stammen dieser antike Mantel aus Westafrika und die Samenfigür­chen von 1659.
FOTOS (3) : ULMER MUSEUM Thomas Grünfeld ist in der Ulmer Ausstellun­g mit einem seiner hybriden Mischwesen vertreten. Aus der Wunderkamm­er des Ulmer Kaufmanns Christoph Weickmann stammen dieser antike Mantel aus Westafrika und die Samenfigür­chen von 1659.
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