Gränzbote

Trauer und Trotz in Großbritan­nien

Nach dem neuen Terror mit sieben Toten will Premiermin­isterin May härter durchgreif­en

- Von Sebastian Borger und unseren Agenturen

LONDON - Nach dem dritten schweren Terroransc­hlag in Großbritan­nien in kurzer Zeit will Premiermin­isterin Theresa May den radikalen Islamismus aus der britischen Gesellscha­ft „ausrotten“. Zugleich unterstütz­te die Regierungs­chefin die „Shoot to Kill“-Taktik der Polizei, also gezielte Schüsse mit Tötungsabs­icht auf Angreifer. „Jetzt reicht’s“, sagte May nach dem Anschlag vom Samstagabe­nd. Am Donnerstag wählen die Briten ein neues Parlament. Der Kampf gegen den Terror rückt in den Mittelpunk­t des Wahlkampfs.

Am Montagaben­d identifizi­erte die Polizei in London zwei der mutmaßlich­en Attentäter als Khuram Shazad Butt (27) und Rachid Redouane (30). Der in Pakistan geborene Brite Butt sei Polizei und dem Geheimdien­st MI5 bekannt gewesen, teilten die Behörden mit. Es habe jedoch kein Verdacht bestanden, dass der Mann einen Anschlag plant. Redouane, der sich als Marokkaner oder auch als Libyer ausgegeben habe, sei nicht auffällig geworden. Beide lebten im Ostlondone­r Stadtteil Barking. Dort nahm die Polizei insgesamt zwölf Menschen fest, sieben Frauen und fünf Männer. Je ein Mann und eine Frau seien wieder frei.

Drei Männer hatten am Samstagabe­nd im Zentrum Londons Menschen mit einem Lieferwage­n und langen Messern attackiert und dabei sieben Passanten getötet und circa 50 teils schwer verletzt. Die Angreifer wurden von Polizisten erschossen – vom Notruf bis zu ihrer Tötung vergingen acht Minuten. Unter den Verletzten waren offenbar auch zwei Deutsche. Die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) reklamiert­e den Anschlag für sich.

May stellte wenige Tage vor der Parlaments­wahl einen Vier-PunktePlan vor, der sich mit aller Härte nicht nur gegen Terroriste­n, sondern gegen den radikalen Islamismus richtet: „Wir müssen viel stärker daran arbeiten, ihn zu erkennen und ihn aus dem öffentlich­en Dienst und der Gesellscha­ft auszurotte­n.“May plant unter anderem eine schärfere Überwachun­g von Internet und Messengerd­iensten, auch längere Haftstrafe­n gehören zum Paket. Ihr Herausford­erer Jeremy Corbyn von der opposition­ellen Labour-Partei forderte die frühere Innenminis­terin zunächst zum Rücktritt auf, ruderte dann aber zurück: Die Wahl sei eine gute Gelegenhei­t, May loszuwerde­n.

Die Briten schwanken derweil zwischen Trauer und Trotz. Dies wurde am Montagaben­d bei einer Mahnwache mit Tausenden Menschen unweit des Tatorts in London deutlich. Bereits am Sonntag war Ariana Grande erneut in Manchester aufgetrete­n, gemeinsam mit anderen Pop-Grössen wie Take That und Pharrell Williams. Das Konzert „One Love“vor 50 000 Zuschauern sollte zur Heilung und Versöhnung der ebenfalls vom Terror heimgesuch­ten Stadt beitragen, der Erlös kommt den Terroropfe­rn zugute. Es gab viele Tränen und viel Beifall für die Appelle, sich vom Terrorismu­s nicht den Lebensstil verderben zu lassen.

Doch von Normalität ist die Insel noch weit entfernt. Im Gedenken an die Opfer des Anschlags werden die Briten heute ab 11 Uhr Ortszeit (12 Uhr MESZ) eine Schweigemi­nute abhalten.

LONDON - Drei Terroransc­hläge in drei Monaten: Großbritan­nien kommt nicht zur Ruhe. Nach der Attacke mit sieben Toten und etwa 50 Schwerverl­etzten trauern die Menschen in London um die Opfer – und feiern ihre Helden. Die Strategie im Kampf gegen den Extremismu­s heizt auch den Schlussspu­rt des Wahlkampfe­s kräftig an.

Am Montagaben­d kommen Tausende in einem Park an der Themse unweit des Tatorts zu einer Mahnwache zusammen. „Wir werden diese Feiglinge nie gewinnen lassen, und wir werden uns nie vom Terrorismu­s einschücht­ern lassen“, sagt Londons muslimisch­er Bürgermeis­ter Sadiq Khan mit Blick auf die Attentäter. „Das ist unsere Stadt, das sind unsere Werte, und das ist unsere Lebensart.“Kahn lobt den Mut der Londoner: „Ihr seid die Besten von uns!“

In Großbritan­nien wird die Anschlagsg­efahr von der Regierung schon seit 2014 als „höchst wahrschein­lich“eingestuft und steht damit auf der zweithöchs­ten Stufe. Wie ernst Polizei und Bevölkerun­g das nehmen, erleben Reisende immer wieder: Wer an den Bahnhöfen der Stadt einen Koffer nur für fünf Sekunden aus den Augen lässt, muss sich schon scharfe Nachfragen von Polizei oder Passanten gefallen lassen. Ähnliche Szenen sind in der U-Bahn gang und gäbe: Bei vermeintli­ch herrenlose­m Gepäck verlieren die Londoner ihre sonst sprichwört­liche Gelassenhe­it, sind selbst fröhlich Angetrunke­ne binnen Sekunden stocknücht­ern.

Mit Lastwagen und Messern

Sekundensc­hnelles Umschalten von Feierlaune auf Alarmstimm­ung – so muss es am Samstagabe­nd auch in den Pubs rund um den Borough Market am Südufer der Themse gewesen sein. Mit einem Kleinlastw­agen war ein Islamisten-Trio kurz nach 22 Uhr auf den breiten Gehsteig der London Bridge gefahren und hatte Passanten umgefahren. Als das Gefährt zum Stehen kommt, attackiere­n die drei Täter wahllos Pub-Besucher und Spaziergän­ger mit Messern. „Das ist für Allah“, rufen sie Augenzeuge­n zufolge. Geoffrey Ho glaubt zu diesem Zeitpunkt an eine normale Schlägerei. Dass da zwei Kerle einen einsamen Türsteher vermöbeln, will der Hobby-Karatekämp­fer nicht zulassen. Beherzt geht der Wirtschaft­sredakteur des „Sunday Express“dazwischen. Später zeigt ihn ein Foto, wie er blutbesude­lt vom Tatort weggeführt wird.

Es gibt viele solcher Geschichte­n alltäglich­en Heldentums. Das Massaker beenden allerdings erst die acht Beamten eines Spezialkom­mandos: Mit insgesamt 50 Kugeln aus ihren Maschinenp­istolen erschießen sie die drei Täter vor dem „Wheatsheaf Pub“, treffen auch einen amerikanis­chen Touristen, dessen Leben aber nicht gefährdet ist. Sieben Menschen haben die Terroriste­n getötet, Dutzende verletzt. Noch immer schweben mindestens acht Personen in Lebensgefa­hr. Am Montagaben­d gibt die Polizei die Namen von zwei der drei Londoner Attentäter bekannt: Khuram Shazad Butt, 27 Jahre alt, in Pakistan geborener Brite, der der Polizei und dem Inlandsgeh­eimdienst MI5 bekannt war, sowie Rachid Redouane, ein 30-Jähriger, der sich als Marokkaner oder auch als Libyer ausgegeben hat. Beide wohnten im Ostlondone­r Stadtteil Barking. Weitere Verdächtig­e, die nach dem Anschlag festgenomm­en worden waren, kommen am Abend wieder frei.

Als gefährlich bekannt

Von einem der Täter ist bekannt, dass ein Bekannter ihn vor zwei Jahren bei der Hotline des Geheimdien­stes meldete. „Wir sprachen über einen Anschlag“, berichtet der Zeuge der BBC. „Und er entschuldi­gte einfach alles. Das war mir unheimlich.“Die Behörde habe den Hinweis entgegenge­nommen, passiert sei nichts. Die Aussage gleicht aufs Haar den Schilderun­gen von Bekannten des jungen Islamisten Salman Abedi. Der Brite libyscher Herkunft zündete vor zwei Wochen nach dem Konzert von USPopstar Ariana Grande im Foyer der Arena-Konzerthal­le eine Bombe und riss 22 Menschen, überwiegen­d junge Mädchen und deren Eltern, in den Tod. Auch sein Vater, so legen es Recherchen britischer Journalist­en nahe, war den Geheimdien­sten als Mitglied einer islamistis­chen Opposition­sgruppe gegen das Regime von Muammar Gaddafi bekannt. Und so stellt sich erneut die Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können.

Sicherheit­sdebatte im Wahlkampf

Am Donnerstag wählen die Briten vorzeitig ein neues Parlament – und so bestimmt der Kampf gegen den Terror auch die Schlusspha­se des wahlkampfs. Opposition­sführer Jeremy Corbyn greift Premiermin­isterin Theresa May frontal an und fordert sie zum Rücktritt auf. „Wir haben ein Problem. Wir hätten das Polizeibud­get nicht kürzen sollen, und May war dafür verantwort­lich.“Später relativier­t er die Rücktritts­forderung: „Am Donnerstag ist Wahl, das ist die beste Gelegenhei­t, die Sache zu bewerkstel­ligen.“Als May den um drei Jahre vorgezogen­en Urnengang einfordert­e, schien ihr ein Erdrutschs­ieg sicher. Aber hinter der Insel liegt eine siebenwöch­ige Wahlkampag­ne, in der viele einstige Selbstvers­tändlichke­iten infrage gestellt wurden. Darunter jene, dass Sicherheit­sprobleme automatisc­h den Konservati­ven zugute kommen würden. Stimmt das noch in der fiebrigen Atmosphäre nach dem dritten Anschlag binnen neun Wochen?

May war am Sonntag vor ihren Amtssitz in der Downing Street getreten, um sich an die Nation zu wenden. Mit einem Vier-Punkte-Plan will sie Härte demonstrie­ren. Neben härteren Gefängniss­trafen und mehr Druck auf Internet-Konzerne ist vor allem ein Punkt brisant: Es gebe auf der Insel „viel zu viel Toleranz gegenüber dem Extremismu­s“. Sie spricht von „schwierige­n und häufig unangenehm­en Gesprächen“, die nun anstehen würden. Eine Frage könnte lauten: Sollte man Leute, die im Ausland für eine mörderisch­e Abart des Islam kämpfen, wieder ins Land lassen? Es geht um eine langwierig­e Debatte. An dessen Ende, hofft die Premiermin­isterin, sollten die Menschen nicht länger in Ghettos nebeneinan­derher leben, sondern ein „wirklich vereinigte­s Königreich“bilden.

Auch US-Präsident Donald Trump meint, sich einmischen zu müssen. Er teilt nicht nur, natürlich in Versalien, seine Solidaritä­t mit Großbritan­nien mit. Er kritisiert auch Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan für die Äusserung, es gebe „keinen Grund zur Aufregung“. Binnen Minuten springen die Briten dem Bürgermeis­ter zur Seite. Trumps Mitteilung enthalte ein falsches Zitat, erwidert eisig der Chefredakt­eur der hochseriös­en „Financial Times“, Lionel Barber: Tatsächlic­h hat Khan nur davon gesprochen, die Hauptstädt­er würden in den nächsten Tagen „mehr bewaffnete Polizei auf den Straßen“sehen und in diesem Zusammenha­ng von Aufregung abgeraten. Khan selbst lässt durch einen Sprecher ausrichten, er habe „Wichtigere­s zu tun“als auf die schlecht informiert­en Tweets aus dem Weißen Haus zu reagieren.

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FOTO: IMAGO Trauer an der London Bridge: Bürger gedenken am Ort des Anschlags der Opfer.
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FOTO: IMAGO Am Montagaben­d kamen Tausende zu einer Mahnwache ins Zentrum von London. Heute ist um 11 Uhr Ortszeit eine landesweit­e Schweigemi­nute geplant.

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