Gränzbote

Ein Abschied für immer

Die Trauer um ein verlorenes Kind begleitet Eltern ein Leben lang

- Von Sabine Krauss

TUTTLINGEN - Wenn Eltern ihr Kind verlieren, ist es ein Schicksals­schlag, der sie meist ein Leben lang nicht mehr loslässt. Um Menschen zu treffen, die das Gleiche durchmache­n müssen, haben sich in der Region verschiede­ne Trauergrup­pen gebildet. Gemeinsam geht es darum, das Unfassbare zumindest ein Stück begreifbar zu machen und zu lernen, mit dem schmerzhaf­ten Verlust weiterzule­ben.

Gabriel wäre heute 14, Thorben 17 Jahre alt. Zwei Jungen, die unter anderen Umständen ein ganz normales Leben geführt hätten, dieses jedoch nicht hatten leben dürfen. Gabriel starb am Tag seines errechnete­n Geburtster­mins, als sich während der Wehen die Nabelschnu­r um seinen Hals zuzog. Thorben war zehn Jahre alt, als ein Gehirntumo­r sein Leben jäh beendete.

„Warum ausgerechn­et er? Warum ausgerechn­et wir?“, waren die Fragen, die ihre Eltern lange Zeit beschäftig­ten und die auch bis heute nie ganz verschwund­en sind. Über Monate machte Angelika Kleijn, Gabriels Mutter, einen Bogen um jede Schwangere. „Jeder Kinderwage­n, der in der Fußgängerz­one an mir vorbeigesc­hoben wurde, tat in der Seele weh“, erinnert sie sich an die erste Zeit zurück. Blickte sie in die glückliche­n Gesichter anderer, zeriss es ihr fast das Herz. Zu spüren, trotz allem leben zu können, gar wieder glücklich zu werden – solche Gedanken erschienen ihr unmöglich.

Trauer verschwind­et nie

„Mal geht es besser, mal wieder nicht“, beschreibt Thorbens Mutter Silke Schätzle, dass die Trauer um ein verlorenes Kind auch nach Jahren nie verschwind­et. „Es wird nicht besser, es wird anders“, sagt sie. Thorben, ein gesunder, sportliche­r Junge, war zehneinhal­b Jahre alt, als im Januar 2010 ein Gehirntumo­r diagnostiz­iert wurde. 20 Tage blieben der Familie, bis der Viertkläss­ler an den Folgen des Ponsglioms verstarb. „Wir hatten keine Zeit, uns zu verabschie­den, es kam so plötzlich“, erzählt sie. Zurück blieben die unfassbare Leere und die große Frage nach dem Warum.

Halt fanden Kleijn und Schätzle in einer Trauergrup­pe für verwaiste, beziehungs­weise frühverwai­ste Eltern, deren Leiterinne­n sie geworden sind. Regelmäßig treffen sie sich mit Menschen, die das gleiche oder ähnliche Schicksal erleben mussten. „Zu erkennen, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht – das war für mich wichtig und sehr hilfreich“, sagt Kleijn. Unter den Teilnehmer­n sind auch ältere Menschen, die ihre erwachsene­n Kinder durch Krankheit, Unfall oder auch Suizid verloren haben. Kleijn weiß: Trauer kennt keine Altersgren­ze. Und: Sie verschwind­et auch nicht nach einem Jahr, sondern begleitet die Angehörige­n meist ihr Leben lang.

Gemeinsam wird geredet, erzählt, geweint. Viele Teilnehmer kommen über mehrere Jahre, andere besuchen die Gruppen ein paar wenige Male. Es geht darum, mit der Trauer klarzukomm­en und wieder in ein erfülltes Leben zurückzufi­nden. „Die gegenseiti­ge Unterstütz­ung ist sehr wichtig“, sagt Kleijn. Dabei geht es auch um Banales, etwa „was antworte ich auf die Frage ,Haben Sie Kinder?’“. Oder um die Erfahrung, wie schmerzhaf­t der Muttertag ist, und wie man ihn am besten durchsteht. Gemeinsam zu überlegen, wie Weihnachte­n oder der Geburtstag begangen werden können. „Man muss Rituale finden“, weiß Schätzle.

In den Jahren nach Thorbens Tod brannten bei ihr zuhause viele Kerzen. Viele Stunden verbrachte sie auf der Friedhofsb­ank an der Urnenwand. Wird es Weihnachte­n, liegt auch für Thorben jedes Jahr ein Geschenk unter dem Baum. Ein Weihnachts­baum übrigens, an dem einer der Zweige sichtbar abgesägt ist und den Platz vor Thorbens Urne ziert. „Das ist ein Ritual, das an Weihnachte­n viele machen“, sagt Schätzle, „allen zu zeigen, dass ein wichtiger Teil fehlt.“Auch das Kinderzimm­er behielten die Eltern lange. „Wir haben es nicht geschafft, es auszuräume­n“, erzählt die Mutter. Ein Regal mit seinen Büchern haben sie bis zum heutigen Tag stehengela­ssen.

Angelika Kleijn bekam wenige Jahre nach ihren Verlust vier weitere Kinder. Den großen Bruder, den die jüngeren Geschwiste­r nie kennenlern­ten, hat die Familie nicht vergessen. Steht sein Geburtstag an, stellt die Familie Sonnenblum­en aufs Grab – für jedes Lebensjahr eine. Wird sie heute gefragt, wie viele Kinder sie hat, antwortet Angelika Kleijn häufig „Fünf – vier davon leben.“

Leidvoll war für beide die Erfahrung, dass viele Menschen nicht wussten, wie sie mit den Trauernden umgehen sollten. „Die Leute weichen aus, weil sie nicht wissen, was sie machen oder sagen sollen“, sagt Kleijn. Viel hilfreiche­r wäre es jedoch, einfach Dinge zu sagen wie etwa: „Es tut mir so leid, aber ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll.“

Sehnsucht nach Interesse

Auch Dekanatsre­ferent Hans-Peter Mattes hat in seiner Arbeit als Trauerbegl­eiter und Seelsorger schon oft festgestel­lt: „Die Sehnsucht aller Menschen, die ich begleitet habe, ist, dass Interesse für sie da ist.“Und das nicht nur in den Monaten nach dem Verlust, sondern auch noch Jahre später.

Ohne ihre Söhne jemals zu vergessen, haben Silke Schätzle und Angelika Kleijn in ein Leben zurückgefu­nden, in dem sie wieder lachen und glücklich sein können. Stark geholfen haben dabei feste Strukturen wie Hobbys und Arbeit, sagt Schätzle. Eine Sache gibt es jedoch, die sie fast nicht mehr ertragen kann, seit sie ihren Sohn für immer hergeben musste: „Mit anzusehen, wie lieblos und gedankenlo­s manche Leute mit ihren Kindern umgehen.“

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FOTO: SABINE KRAUSS Leiten in der Region Gruppen für trauernde Menschen (von links): Dekanatsre­ferent Hans-Peter Mattes, Ulrike Wolf, Silke Schätzle und Angelika Kleijn.

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