Prozess um 71 erstickte Flüchtlinge beginnt
Schlepperbande steht vor Gericht – auch Schuldfrage der Polizei soll geklärt werden
KECSKEMET - Fast zwei Jahre nach dem Fund von 71 qualvoll erstickten Leichen in einem Kühllaster östlich von Wien hat am Mittwoch der Prozess gegen eine elfköpfige Schlepperbande begonnen. Bereits nach den ersten Minuten des Verfahrens stand fest, dass die Beschuldigten kein Geständnis ablegen werden.
Samsoor L., der Hauptangeklagte und Kopf der Schlepperbande, setzt offenbar auf Verzögerung des Verfahrens als Verteidigungsstrategie. So lehnte der 30-jährige Afghane die Dolmetscherin ab: „Ich verstehe sie nicht, sie spricht einen anderen Dialekt“, beschwerte er sich. Der Übersetzerin platzte im Verlauf der Anklageverlesung der Kragen. Sie verteidigte mit einem Fausthieb auf die Tischplatte ihre Professionalität. Richter Janos Jadi kündigte dennoch ihre Ablöse an.
71 Menschen auf 14 Quadratmetern
Was seit Mittwoch in Kecskemet vor Gericht aufgerollt wird, hat den EURegierungen die kriminellen Begleiterscheinungen der Flüchtlingsbewegungen schlagartig klar gemacht. Am 26. August 2015 inspizierten österreichische Polizisten auf der Autobahn bei Parndorf östlich von Wien auf einer Nothaltebucht einen abgestellten Kühlwagen mit ungarischem Kennzeichen. Als sie die Hintertür öffneten, fanden sie Dutzende Leichen, die ineinandergekeilt auf der Ladefläche lagen. Wie der Staatsanwalt in Kecskemet erklärte, sind die 71 Menschen aus Syrien, dem Irak, Iran und Afghanistan – 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder, das jüngste elf Monate alt – qualvoll erstickt. Die Ladefläche betrug gerade einmal 14 Quadratmeter, es gab keine Fenster, keine Lüftung, keine Sitzgelegenheiten.
Die 71 Flüchtlinge waren über die mittlerweile geschlossene Balkanroute gekommen. Ihr Ziel war Deutschland. Sie hatten sich in der Nähe von Kecskemet jener Schlepperbande anvertraut, die jetzt vor Gericht steht. Insgesamt sind elf Männer, mit Ausnahme des Kopfes, wegen bandenmäßiger Schlepperei angeklagt. Einer ist noch flüchtig, ihm wird in Abwesenheit der Prozess gemacht.
Vier führende Bandenmitglieder werden zudem des „qualifizierten Mordes“beschuldigt: „Die Angeklagten haben den Tod dieser Menschen in Kauf genommen“, so der Staatsanwalt. Der Ankläger forderte lebenslänglich, das bedeutet in Ungarn 25 Jahre Haft ohne Aussicht auf Strafminderung. Die Bande soll laut Anklage zwischen Februar und August 2015 mehr als 1200 Menschen nach Westeuropa geschleust haben. Dabei soll allein der Bandenchef mehr als 300 000 Euro kassiert haben.
Allerdings muss sich das Gericht auch mit der Frage befassen, ob die ungarischen Behörden das Verbrechen verhindern hätten können. Bereits 13 Monate war die Schlepperbande Ziel einer Überwachungsaktion. Aus Abhörprotokollen, die ein deutsches Recherchenetzwerk vor rund einer Woche veröffentlicht hatte, geht hervor, dass die Informationen für eine Festnahme ausgereicht hätten. Demnach hat Bandenchef L. dem 26-jährigen Fahrer Ivalyo S. verboten, die Tür zum Laderaum zu öffnen, um den Flüchtlingen Wasser zu geben. Bereits nach 30 Fahrminuten hätten die Flüchtlinge den Sauerstoffmangel gespürt, zu schreien begonnen und gegen die Wände getrommelt. Ivalyo S. habe zunächst zum stellvertretenden Bandenchef Metodi G. gesagt: „Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist.“Daraufhin erteilte Bandenchef L. über seinen Vize die Weisung an den Fahrer: „Sag ihm, er soll nur weiterfahren. Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen.“
Polizei streitet Versagen ab
Laut Polizeiminister Sandor Pinter hätten die ungarischen Behörden „keinerlei Informationen besessen“, um das Verbrechen zu verhindern. Pinter bezeichnete die Vorwürfe als „Schmierenkampagne deutscher Medien“, dementierte jedoch nicht den Inhalt des abgehörten Telefonats. Aus Polizeikreisen heißt es, die Abhörprotokolle seien nicht rechtzeitig übersetzt zur Verfügung gestanden, hätten aber dazu beigetragen, dass die Täter relativ rasch ausgeforscht und verhaftet werden konnten.
Am heutigen Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt. Ein Urteil wird für Ende des Jahres erwartet.