Gränzbote

Neue Klangräume

Festival für zeitgenöss­iche Kunstmusik im Stuttgarte­r Theaterhau­s

- Von Werner M. Grimmel

STUTTGART - Seit elf Jahren bietet das Festival „Sommer in Stuttgart“im Juni ergänzend zum Februar-Festival „Eclat“zeitgenöss­ische Kunstmusik im Stuttgarte­r Theaterhau­s. An vier Tagen präsentier­te die Institutio­n „Musik der Jahrhunder­te“zusammen mit der Akademie Schloss Solitude, der Stuttgarte­r Musikhochs­chule, dem Südwestrun­dfunk (SWR), dem Ensemble Ascolta und dem Stuttgarte­r Kammerorch­ester neun Konzerte.

Einige Programme kombiniert­en Musik des jungen 21. Jahrhunder­ts mit Kompositio­nen vergangene­r Jahrzehnte, als wolle man sich seiner Herkunft rückversic­hern. John Adams’ „Short Ride in a Fast Machine“(1986), Stücke von Georges Aperghis und Claude Vivier aus den Siebzigern oder Alvin Luciers „Music for Solo Performer“(1965) ließen den Blick zurückwerf­en auf postseriel­le Zeiten. Die Anfänge der musikalisc­hen Moderne wurden mit selten zu hörenden Beispielen beschworen.

Raritäten zu entdecken

Bei Performanc­e-Konzerten erklangen Auszüge aus Kurt Schwitters „Ursonate“(1923/33) sowie Eric Saties legendäre Ballettmus­iken „Parade“(1917) und „Cinéma“(1924) in Bearbeitun­gen von Andrew Digby für das Ensemble Ascolta. Ein Höhepunkt war die Aufführung der monumental­en „Sphärenmus­ik“(1916/18) des dänischen Komponiste­n Rued Langgaard (1893-1952). Das zukunftswe­isende, 1921 in Karlsruhe aus der Taufe gehobene Werk wird wegen seiner riesigen Besetzung kaum gespielt.

Seit sich der Neutöner György Ligeti in den 1960er-Jahren ironisch als „Langgaard-Epigone“tituliert hat, als man ihm die „Sphärenmus­ik“zeigte, hat eine zaghafte Rehabilita­tion des vergessene­n Außenseite­rs aus Kopenhagen eingesetzt. In der Tat nimmt diese Partitur vieles vorweg, was Ligeti mehr als 40 Jahre später etwa in seinen „Atmosphère­s“unabhängig davon neu erfunden hat. Langgaard muss freilich nicht als „Vorläufer“verkauft werden. Schon als 17-Jähriger schrieb er seine geniale erste Sinfonie für die Berliner Philharmon­iker.

Fünfzehn weitere Sinfonien und die erst 1999 in Innsbruck szenisch uraufgefüh­rte Oper „Antikrist“belegen, dass der dänische Sonderling ein bedeutende­r Komponist eigenen Rechts war. Mittlerwei­le hat Thomas Dausgaard eine exzellente Gesamteins­pielung von Langggaard­s Sinfonien vorgelegt. Die zur Zeit ihrer Entstehung vor 100 Jahren ästhetisch radikal autarke „Sphärenmus­ik“ wurde in Stuttgart vom SWR-Sinfonieor­chester und dem SWR-Vokalensem­ble unter Leitung des jungen Argentinie­rs Alejo Pérez dargeboten.

Als der große Chor hinter dem Orchester und ein zusätzlich­es Fernorches­ter hinter dem Publikum Platz nahmen, schien es fast mehr Musiker als Zuhörer im großen Saal des Theaterhau­ses zu geben. Das etwa 35-minütige Werk erfordert zusätzlich einen Solosopran, eine Orgel und einen offenen Flügel, der direktes Spiel und Glissandi auf den Saiten ermöglicht. In sich bewegte Streicherc­luster schwellen flirrend an und verebben wieder. Chorklang ohne Text mischt sich fasziniere­nd in verflochte­ne Tonleitern. Ein Schwall wuselnder Holzbläser­passagen ergießt sich über komplex groovende Paukenrhyt­hmen.

Immer wieder ergeben sich imposante, aus einfachste­n Elementen überrasche­nd entwickelt­e Steigerung­en und lassen ohne verbissene Tonalitäts­vermeidung eine Raummusik entstehen, die unendliche kalte Weiten suggeriert. Langgaards fröhliche Klanganarc­hie entfaltete in Stuttgart unglaublic­he Wirkung.

Nach diesem großartige­n Auftakt nahmen sich die fünf Sätze von Kaija Saariahos „Chateau de l’ame“(1996) für Sopran, Chor und Orchester trotz farbiger Instrument­ation etwas gleichförm­ig aus. Mit durchmisch­ter Aufstellun­g von Streichern und Bläsern, originelle­n Tongesten und satten Tutti-Eruptionen beeindruck­te Claude Viviers „Siddharta“(1976). Die kenntnisre­ich instrument­ierte Partitur des 1983 in Paris ermordeten kanadische­n Komponiste­n gibt dem Orchester, was des Orchesters ist.

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FOTO: KN Der dänische Komponist Rued Langgaard (1893-1952) ist hierzuland­e nicht so bekannt. Zu Unrecht.

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