Gränzbote

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Max Frischs „Andorra“von der Badischen Landesbühn­e Bruchsal aufgeführt

- Von Kornelia Hörburger

TUTTLINGEN - Vorurteile, Wahrheit, Feigheit, Rassismus – die großen Themen in Max Frischs „Andorra“sind heute brandaktue­ll, obwohl das Stück bereits vor 56 Jahren Premiere feierte. Wolf E. Rahlfs hat den Theaterkla­ssiker in seiner Inszenieru­ng mit der Badischen Landesbühn­e Bruchsal behutsam modernisie­rt, ohne ihn zu verfremden.

Viele Schulklass­en sorgten am Montagaben­d für eine vollbesetz­te Stadthalle, in der Pause für lebhafte Diskussion­en – und am Ende der Vorstellun­g für begeistert­en Applaus.

Andri ist klug und selbstrefl­ektiert und damit anders als die anderen. Die Andorraner halten ihn für einen typischen Juden, den der Lehrer als Kind vor den „Schwarzen“gerettet hat, den Bewohnern jenes mächtigen Nachbarsta­ats, in dem Juden verfolgt und ermordet werden.

Schließlic­h identifizi­ert sich Andri mit dem Bild, das die Andorraner von ihm entworfen haben. Unbeliebt, ehrgeizig, vorlaut, feige und geldgierig, so beschreibt er sich jetzt selber. Andri glaubt, der Lehrer verwehre die Heirat mit Barblin nur, weil Andri Jude sei. Zu spät bekennt sich der Lehrer zur Wahrheit, die Andri ihm nicht mehr glauben mag: Barblin und Andrin sind Geschwiste­r, denn Andri stammt aus einer Beziehung mit einer „Schwarzen“, zu der der Lehrer nicht stehen wollte.

Als Andris Mutter die beiden Männer überrasche­nd besucht, wird sie als vermeintli­cher Spitzel ermordet, weil die „Schwarzen“gerade in Andorra einmarschi­ert sind. Ein „Judenschau­er“überführt Andri als Juden und damit automatisc­h als Mörder. Anschließe­nd wird er getötet. Der Lehrer erhängt sich.

Die Bruchsaler Truppe legte die Rollen klar an: Maximilian Wex als aufrechter, sehr geradlinig­er Andri im Gegensatz zum vulgären Soldaten (Martin Behlert), dessen derbe Späße bei aller Dramatik auch Heiterkeit im Publikum auslösten.

René Laier gab sich als Lehrer von Beginn an kämpferisc­h gegenüber den Andorraner­n und wich aus, wenn es um den Sohn ging. Cornelia Heilmann absolviert­e in ihrer Dreifach-Besetzung (Jemand, Schwarze und Mutter) ein Mammut-Programm mit Bravour.

In Gesprächen hatte es Andri meist mit allen Andorraner­n gleichzeit­ig zu tun. Als der jugendlich­freundlich­e Pater (Andreas Schulz) Andri ins Gebet nahm, wurde er gleich von fünf Pater-Duplikaten mit roter Stola unterstütz­t. Ebenso viele Kopien mit Stethoskop oder Karohemd bekräftigt­en die Aussagen des Doktors und des Tischlerme­isters – von den verschiede­nen Ebenen des Holzgerüst­s auf der Bühne oder im bedrängend­en Halbkreis um Andri, in verteilten Rollen oder synchron und mit Choreograf­ie wie im antiken Chor – immer aber mit eindringli­cher Übermacht.

Zeugenstan­d fürs Publikum

Frisch lässt die Figuren zwischen den Szenen aus ihren Rollen heraus und zum Bühnenrand hintreten, um in einer Art Zeugenstan­d fürs Publikum ihr eigenes Verhalten zu kommentier­en. Rahlfs verzichtet­e darauf, den Handlungsf­luss damit zu unterbrech­en, und packte die Statements en bloc ganz ans Ende. An der Grenze zwischen Spiel und Realität, während die Bühne im Hintergrun­d bereits abgebaut wurde und die Schauspiel­er auf offener Bühne ihre Kostüme gegen Straßenkle­idung tauschten, hörte das Publikum die Schlussplä­doyers der Andorraner.

Dass sie sich alle geirrt hätten, räumte jeder ein. Ein Jude sei Andri ja nicht gewesen. Eine Schuld an Andris Tod wies jedoch jeder von sich. Keiner von ihnen hätte ihn schließlic­h getötet. Max Frisch sagte dazu: „Für mich gehört es zum Wesentlich­en des Einfalls, dass die Andorraner ihren Jud nicht töten, sie machen ihn nur zum Jud in einer Welt, wo das ein Todesurtei­l ist.“

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FOTO: HÖR Andris Vater versucht vergeblich, seinen Sohn zu retten.

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