Lügen haben kurze Beine
Nicholas Searle hat einen raffinierten Debütroman geschrieben: „Das alte Böse“
Eine geheimnisvolle Aura kann bei einem Newcomer im Literaturbetrieb nicht schaden. Spekulationen um die Identität des Autors wirken sich oft verkaufsfördernd aus. So war es auch bei Nicholas Searle, der in Wahrheit anders heißt und dessen Biografie zum Teil im Dunklen liegt. Jedenfalls hat der britische Verlag über den Debütanten nicht mehr verraten, als dass er in seinem früheren Leben in Göttingen studierte, in Neuseeland lebte und dort sowie in England im öffentlichen Dienst arbeitete. So weit, so unspektakulär, wäre da nicht der kleine Hinweis, dass Searle mit Sicherheitsfragen beschäftigt war. Ein Agent? Der Verdacht wurde noch durch den Hinweis genährt, dass der Autor Graham Green und John le Carré als literarische Vorbilder verehrt. Ein Agentenroman ist Searles Erstling „Das alte Böse“allerdings nicht. Doch ist die Hauptfigur dieses britischen Bestsellers eine mehr als undurchsichtige Erscheinung.
Roy Courtnay ist ein Hochstapler, ein Gauner, ein notorischer Betrüger. Inzwischen ist er zwar schon über 80, doch er lässt das Tricksen nicht. Roy betritt die Bühne als Falschspieler bei einem Onlinedating. Sein Opfer ist Betty, eine liebenswerte und gut erhaltene alte Dame, die ihn als Person allerdings nur insofern interessiert, als sie Besitzerin eines soliden Vermögens ist.
Eine bewegte Biografie
Der ganze „Datingquatsch“ist für den berechnenden und in die Jahre gekommenen Charmeur nur „ein professionelles Unterfangen. Er lässt sich nicht als Zeitvertreib missbrauchen, serviert sie nicht mit Samthandschuhen ab. Mit seinen blauen Augen spießt er sie auf und nimmt sie auseinander wie mit einem Skalpell. Zerlegt sie. Er hat seine Hausaufgaben gemacht und das lässt er sie spüren.“Ahnungslos scheint die gute Betty dem Betrüger in die Fänge zu gehen.
Schon bald wohnen die beiden zusammen, nur Bettys Enkel Stephen bleibt notorisch misstrauisch und belauert den Eindringling. Das Buch beginnt eher wie ein konventioneller Krimi, doch nach und nach schlägt Searle eine andere Richtung ein, die Geschichte bekommt immer mehr Tiefgang und nimmt am Ende eine unerwartete Wende. Der Schlüssel zu allem, das ahnt der Leser bald, liegt in Roys bewegter Biografie, die dieser Betty mit Bedacht verschweigt.
Doch der Autor enthüllt sie uns in diversen Rückblenden: Roy als Gauner in der schmuddeligen Unterwelt Sohos in den 1970er-Jahren, als kleiner Tagelöhner im ländlichen Norfolk zehn Jahre zuvor, als Angestellter eines Lords in Brüssel und schließlich als Nazijäger im Dienst der britischen Militärpolizei. Die Geschichte geht sogar bis ins Berlin des Jahres 1938 zurück. So entsteht das bitterböse Porträt eines Menschen, der ebenso wendig wie skrupellos ist und erschreckend wenig Mitgefühl zeigt.
Frauen, Kumpel, Spießgesellen setzt Roy kühl berechnend für seine Zwecke ein, Verluste werden als Kollateralschaden abgehakt. Kaltschnäuzig bilanziert er den Verlust eines Freundes: „Mit Bob ist es genau wie mit all den anderen, die er zurückgelassen hat. Einmal in der Vergangenheit versunken, könnten sie ebenso gut tot sein. An sie zu denken ist nichts als Zeit- und Kraftverschwendung. In seinen Augen sind sie ohnehin nicht mehr am Leben.“
Was das Ganze mit Betty zu tun hat? Das enthüllt sich in einer raffinierten Volte am Schluss des Romans, wenn sich der Bogen schließt. Nur so viel sei verraten: Natürlich ist die alte Dame nicht der Naivling, als der sie anfangs zu sein scheint. Sie hat es sogar faustdick hinter den Ohren. Searles Erstling ist ein fesselndes und äußerst geschickt zusammengesetztes Puzzlespiel, von dem wir uns gerne in die Irre führen lassen. Das Buch überzeugt auch ganz ohne die Geheimniskrämerei um die Biografie des Autors. Nicholas Searle: Das alte Böse, Kindler Verlag, Reinbek, 365 Seiten, 19,95 Euro.