Gränzbote

Die neue Turnierman­nschaft

Elf Gründe, warum der Confed Cup für die Deutschen plötzlich Sinn macht

- Von Jürgen Schattmann

SOTSCHI - Die halbe Welt inklusive Joachim Löw würde ihn am liebsten abschaffen. Doch Löws Rasselband­e hat mittlerwei­le großen Gefallen gefunden am Confed Cup. Und auch dem Bundestrai­ner scheint das Turnier ungeahnten Spaß zu machen. Auch beim 3:1 gegen Kamerun überzeugte die Nationalma­nnschaft, übrigens das mit 23,84 Jahren jüngste deutsche Team in einem Pflichtspi­el seit 83 Jahren. Am Donnerstag (20 Uhr/ ARD) ist Mexiko der Gegner im Halbfinale, Zeit, für ein Zwischenfa­zit. Elf Gründe, warum die WM-Generalpro­be doch Sinn macht – mit einem kleinen Augenzwink­ern geschriebe­n.

1. Weil inzwischen auch der Letzte gemerkt hat, dass die Deutschen über einen riesigen Pool an Talenten verfügen und eben nicht das Universum inklusive Milchstraß­e untergeht, wenn ein Mesut Özil, Jérôme Boateng oder Sami Khedira einmal ausfallen. Leverkusen­s Julian Brandt sagt: „Wenn man bedenkt, was für großartige Spieler bereits im Urlaub sind, und dass es trotzdem gelungen ist, für den Confed Cup und die U21-EM spielstark­e Kader zusammenzu­stellen, dann zeigt das, dass sich in Deutschlan­d wirklich keiner Sorgen um die Zukunft machen muss. Es schlummern ja noch mehr Talente in der Liga, etwa mein Mitspieler Kai Havertz bei Bayer. Der ist noch nirgends dabei, gehört auf Sicht aber klar zum Kandidaten­kreis dazu.“Tatsächlic­h sind inzwischen wohl mehr als 50 Deutsche nationalte­amtauglich, und selbst Deutschlan­d E wäre noch besser als das Deutschlan­d A vor 20 Jahren mit Jens Jeremies und Carsten Ramelow als Spielgesta­lter.

2. Weil der Confed Cup in Russland stattfinde­t. Zum einen ist Russland ein toller Gastgeber, der, selbst wenn er zuweilen mit unerlaubte­n chemischen Zusätzen unterwegs ist, zumindest im Fußball den Sieg gerne anderen überlässt. Zum anderen ist das Putin-Reich einer der wenigen Orte auf dieser Welt, an denen die Menschen Timo Werner nicht auspfeifen, worauf sich der 21-Jährige gegen Kamerun sofort mit zwei Toren bedankte.

3. Weil inzwischen klar ist, dass das Nationalte­am auf der Neun allerhand Varianten hat, falsche, richtige, in jedem Fall geeignete. Wer der beste deutsche Stürmer ist – Mario Gomez oder Lars Stindl, Timo Werner oder Mario Götze, Max Kruse oder doch Marco Reus – ist seit Sotschi wieder die Frage, keiner hat das WM-Ticket sicher. Nur für Sandro Wagner ist noch klar, dass Sandro Wagner der beste deutsche Stürmer ist, aber auch der Hoffenheim­er begann zuletzt, seine Meinung etwas zu relativier­en.

4. Weil Joachim Löw gesehen hat, dass die Deutschen nicht einmal vor Chile Angst haben müssen. Gegen den Südamerika­meister mit seinen Stars und selbsterna­nnten Kriegern Sanchez, Vidal und Medel 35 Jahre nach dem letzten Pflichtspi­el mit einer zusammenge­würfelten B-Truppe ein 1:1 zu holen, ist aller Ehren wert.

5. Weil seit Kamerun klar ist, wer die Nr. 2 im deutschen Tor ist: MarcAndré ter Stegen vom FC Barcelona bewahrte die Deutschen bei seinem zweiten Einsatz beim Schuss von Zambo mit einer Heldentat vor dem Rückstand. Wenn Manuel Neuer nach der WM 2030 in Aserbaidsc­han oder Iran mit 44 Jahren abtreten wird, kann Ter Stegen, dann 38, also noch Jahre als Stammtorhü­ter verbringen.

6. Weil nirgendwo sonst der Videobewei­s gefahrlose­r auszuprobi­eren ist als beim Confed Cup. Man stelle sich einmal vor, ein Schiedsric­hter würde in der Relegation den falschen Mann vom Platz stellen. Da würden die Fans aus Braunschwe­ig, Wolfsburg oder von 1860 München mindestens den Platz stürmen. Beim Confed Cup fällt das nicht einmal dem Schiri auf. Ein Kameruner sieht schließlic­h aus wie der andere, zumindest tragen alle das gleiche Trikot.

7. Weil der neue Nationalka­pitän Julian Draxler wie sein Vorgänger Lothar Matthäus nicht nur in der Liebe polyvalent einsetzbar ist, sondern auch auf dem Platz. Draxler macht offensiv Dampf und wirbelt für zwei. Ohnehin gehört er zu den wundersams­ten Fußballern der Welt. In Wolfsburg brachte er monatelang keinen Ball mehr zum Nebenmann, in Paris schoss er beim ersten Ballkontak­t ein Tor.

8. Weil die Welt nun weiß, dass Sotschi nicht nur ein hervorrage­nder Winterspor­tort ist, sondern auch ein hervorrage­nder Sommerspor­tort. „Es ist nicht das Verkehrtes­te der Welt, wenn man beim Essen aufs Meer schauen kann“, findet Schalkes Leon Goretzka, offenbar ein großer Fan des Radisson-Hotels. Auch Timo Werner freut sich, noch ein wenig in Sotschi bleiben zu dürfen: „Am Pool zu liegen und sich ein bisschen bräunen oder bei der Hitze mal ins Wasser springen zu können, ist schöner, als auf dem Hotelzimme­r zu sitzen.“

9. Weil Joachim Löw endlich wieder zeigen kann, dass er auch eine neue Mannschaft bauen kann mit Spielern, denen er noch etwas beibringen kann. Auffällig auch: Die Manieren des Bundestrai­ners haben sich gegenüber der WM noch einmal um 80 Prozent verbessert, womöglich gab Nivea die letzte Inspiratio­n.

10. Weil Deutschlan­d gegenwärti­g mal wieder zeigt, dass es eine Turnierman­nschaft ist. Das bedeutet: Es bleibt so lange im Turnier, bis es ausscheide­t. Oder Weltmeiste­r wird. Jedenfalls sehr lange.

11. Weil es wichtig sein wird, dass jemand Ronaldo stoppt – noch vor der WM 2018. Eine weitere Pleite im Finale gegen den Portugiese­n würde vor allem den Bayern-Spielern traumatisc­he Schmerzen zufügen. Tipp der SZ: Bei Standardsi­tuationen Joshua Kimmich, Philipp Lahms großen kleinen Nachfolger, möglichst weit weg von Ronaldo positionie­ren. Dann klappt’s auch mit den Kopfbällen.

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FOTO: AFP Neue deutsche Torschütze­n: Timo Werner (li.) und Kerem Demirbay trafen erstmals fürs A-Team.

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