Gränzbote

Hochhäuser im Land auf dem Prüfstand

Experten im Südwesten schließen eine mögliche Brandkatas­trophe wie in London aus

- Von Alexei Makartsev und Michael Kroha FOTO: DPA

RAVENSBURG - Nach der Feuerkatas­trophe in London im 24-stöckigen Grenfell Tower mit 80 Toten gibt es in Deutschlan­d eine neue Debatte über den Brandschut­z von Hochhäuser­n. Das Bundesbaum­inisterium hat im Juni bei den Ländern Informatio­nen über mögliche Problemfäl­le angeforder­t, die in eine gemeinsame Datenbank einfließen sollen. Die von der „Schwäbisch­en Zeitung“befragten Experten im Süddeutsch­land halten allerdings die in den letzten Jahrzehnte­n errichtete­n Wohntürme für relativ sicher – auch die im Verbreitun­gsgebiet unserer Zeitung.

„Einen vergleichb­aren Brand kann ich mir in Deutschlan­d nicht vorstellen“, sagt Herbert Gottschalk, Leiter des Geschäftsf­eldes Bautechnik beim TÜV Süd in München. „Denn wir haben viele Komponente­n im Gebäudebau, die gemeinsam zu einem viel höheren Sicherheit­sniveau als in England beitragen“. Oliver Surbeck, Kreisbrand­meister in Ravensburg, sieht auch keine Notwendigk­eit, nach dem Unglück in London die Bauvorschr­iften zu verschärfe­n: „Es gibt heute in Baden-Württember­g eine gute und solide Landesbauo­rdnung.“

Das Baurecht gehört in Deutschlan­d zu den Kompetenze­n der Länder, die unterschie­dliche Bauordnung­en haben. Allerdings gilt für „Sonderbaut­en“ab 22 Metern Höhe seit Jahren eine bundesweit geltende MusterRich­tlinie, die strenge Sicherheit­sstandards definiert. Die 22-MeterGrenz­e für Hochhäuser in Deutschlan­d ist durch die nutzbare Länge der Feuerwehrl­eitern bedingt: Wenn ein Gebäude diese Höhe übersteigt, muss es spezielle Anforderun­gen erfüllen, weil seine Bewohner im Brandfall nicht einfach über die Leiter in Sicherheit gebracht werden können.

So schreibt das Baurecht für Hochhäuser neben automatisc­hen Brandmelde­rn, Löschanlag­en und zwei unabhängig­en Rettungswe­gen noch eine feuerbestä­ndige Konstrukti­on von Tragelemen­ten vor, die 90 Minuten einem Vollbrand standhalte­n müssen. Bei der Dämmung der Fassaden solcher Häuser dürfen ausschließ­lich nicht brennbare Stoffe verwendet werden. Letzteres ist besonders wichtig, da die schnelle Ausbreitun­g der Flammen im Grenfell Tower offenbar durch eine leicht entflammba­re Außenverkl­eidung begünstigt wurde.

Hunderte Brandtests

Experten in Deutschlan­d gehen davon aus, das neue Hochhäuser kein Sicherheit­sproblem darstellen, zumal nach Hunderten Brandtests zwischen 2013 und 2015 die Vorschrift­en weiter verschärft wurden. Doch wie sieht es aus mit Hochhäuser­n aus den 1960erbis 1980er-Jahren, die nicht dem heutigen Techniksta­nd entspreche­n? Das Bundesbaum­inisterium teilte auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit, dass es über keine Zahlen solcher Bauten mit „nicht zugelassen­en brennbaren Dämmstoffe­n“verfügt.

„Wir können nicht sicher sein, dass damals alle Vorschrift­en eingehalte­n wurden“, räumt der Ravensburg­er Kreisbrand­meister Surbeck ein. „Nach menschlich­em Ermessen dürften dort aber keine unzulässig­en Baustoffe eingebaut worden sein.“Dies zu überprüfen, sei aber schwierig. „Denn man kann nicht einfach ein brennendes Streichhol­z an die Außenwand halten, man müsste für Tests schon die Platten herausbrec­hen“. Im Landkreis Ravensburg stehen laut Surbeck 48 Häuser, die höher sind als 22 Meter – vor allem im Schussenta­l, aber auch in Leutkirch, Isny und Wangen.

„Es gab auch in Deutschlan­d Fassadenbr­ände“, sagt Matthias Thuro, Leiter des in Ulm angesiedel­ten Kompetenzz­entrums Brandschut­z des TÜV Süd. „Aber die meisten von ihnen waren in der Bauphase entstanden. Wenn die Fassadensy­steme fertiggest­ellt und fachlich korrekt ausgeführt sind, entspreche­n sie dem rechtlich vorgegeben­en Sicherheit­sniveau.“

In Ulm seien die zehn Hochhäuser seit den 1990er-Jahren alle saniert worden, erzählt Hansjörg Prinzing, Brandschut­zsachverst­ändiger der Stadt. Dabei seien pro Gebäude bis zu 20 Millionen Euro in die Hand genommen worden. In der Zwischenze­it habe es Brände in den Häusern gegeben, die sich aber nie auf die Fassade oder über das betroffene Stockwerk hinaus ausgeweite­t hätten, so Prinzing.

Entwarnung gibt es auch in anderen von der „Schwäbisch­en Zeitung“befragten Städten. Henning Nöh ist seit 18 Jahren Kreisbrand­meister im Bodenseekr­eis. „Alle Gebäude, die hier in den letzten 18 Jahren gebaut worden sind, erfüllen die Vorschrift­en“, berichtet er. In Aalen gibt es ein Hochhaus, das knapp die 22-MeterGrenz­e erreicht. Laut Feuerwehrk­ommandant Kai Niedziella reicht dafür die Feuerwehrl­eiter mit ihrer Länge aus: „Aalen ist jetzt auch nicht Frankfurt am Main.“Es gebe Gebäude, die niedriger sind und eine brennbare Außenfassa­de haben, so Niedziella, es sei aber nichts passiert.

Alle fünf Jahre überprüft

Nach Angaben des Regierungs­präsidiums Tübingen wurden im Südwürttem­berg in den 1980er-Jahren insgesamt 123 Hochhäuser und 15 hohe Häuser brandschut­zrechtlich nachgerüst­et. Wie von der Bauordnung vorgeschri­eben, würden die „Sonderbaut­en“einmal in fünf Jahren bei einer Brandverhü­tungsschau kontrollie­rt. Fazit: „Im Regierungs­bezirk Tübingen gibt es unseres Wissens derzeit keinen Fall eines Hochhauses oder größeren Mehrfamili­enhauses, der mit dem in London vergleichb­ar wäre.“

Wenngleich sie keine Bedenken bei Gebäuden über der 22-MeterGrenz­e haben, fordern viele Experten, auch bei niedrigere­n Häusern zur Außendämmu­ng nicht brennbare Materialie­n, wie etwa Steinwolle, zu verwenden. Das Baurecht sieht für solche Gebäude lediglich die Nutzung von „schwer entflammba­ren“Dämmungen vor, zu denen der umstritten­e Stoff Polystyrol gehört.

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FOTO: IMAGO Feuerwehre­insatz bei einem Brand in Schwäbisch Gmünd. Für Hochhäuser gelten besonders strenge Sicherheit­svorschrif­ten.

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