Hochhäuser im Land auf dem Prüfstand
Experten im Südwesten schließen eine mögliche Brandkatastrophe wie in London aus
RAVENSBURG - Nach der Feuerkatastrophe in London im 24-stöckigen Grenfell Tower mit 80 Toten gibt es in Deutschland eine neue Debatte über den Brandschutz von Hochhäusern. Das Bundesbauministerium hat im Juni bei den Ländern Informationen über mögliche Problemfälle angefordert, die in eine gemeinsame Datenbank einfließen sollen. Die von der „Schwäbischen Zeitung“befragten Experten im Süddeutschland halten allerdings die in den letzten Jahrzehnten errichteten Wohntürme für relativ sicher – auch die im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung.
„Einen vergleichbaren Brand kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen“, sagt Herbert Gottschalk, Leiter des Geschäftsfeldes Bautechnik beim TÜV Süd in München. „Denn wir haben viele Komponenten im Gebäudebau, die gemeinsam zu einem viel höheren Sicherheitsniveau als in England beitragen“. Oliver Surbeck, Kreisbrandmeister in Ravensburg, sieht auch keine Notwendigkeit, nach dem Unglück in London die Bauvorschriften zu verschärfen: „Es gibt heute in Baden-Württemberg eine gute und solide Landesbauordnung.“
Das Baurecht gehört in Deutschland zu den Kompetenzen der Länder, die unterschiedliche Bauordnungen haben. Allerdings gilt für „Sonderbauten“ab 22 Metern Höhe seit Jahren eine bundesweit geltende MusterRichtlinie, die strenge Sicherheitsstandards definiert. Die 22-MeterGrenze für Hochhäuser in Deutschland ist durch die nutzbare Länge der Feuerwehrleitern bedingt: Wenn ein Gebäude diese Höhe übersteigt, muss es spezielle Anforderungen erfüllen, weil seine Bewohner im Brandfall nicht einfach über die Leiter in Sicherheit gebracht werden können.
So schreibt das Baurecht für Hochhäuser neben automatischen Brandmeldern, Löschanlagen und zwei unabhängigen Rettungswegen noch eine feuerbeständige Konstruktion von Tragelementen vor, die 90 Minuten einem Vollbrand standhalten müssen. Bei der Dämmung der Fassaden solcher Häuser dürfen ausschließlich nicht brennbare Stoffe verwendet werden. Letzteres ist besonders wichtig, da die schnelle Ausbreitung der Flammen im Grenfell Tower offenbar durch eine leicht entflammbare Außenverkleidung begünstigt wurde.
Hunderte Brandtests
Experten in Deutschland gehen davon aus, das neue Hochhäuser kein Sicherheitsproblem darstellen, zumal nach Hunderten Brandtests zwischen 2013 und 2015 die Vorschriften weiter verschärft wurden. Doch wie sieht es aus mit Hochhäusern aus den 1960erbis 1980er-Jahren, die nicht dem heutigen Technikstand entsprechen? Das Bundesbauministerium teilte auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit, dass es über keine Zahlen solcher Bauten mit „nicht zugelassenen brennbaren Dämmstoffen“verfügt.
„Wir können nicht sicher sein, dass damals alle Vorschriften eingehalten wurden“, räumt der Ravensburger Kreisbrandmeister Surbeck ein. „Nach menschlichem Ermessen dürften dort aber keine unzulässigen Baustoffe eingebaut worden sein.“Dies zu überprüfen, sei aber schwierig. „Denn man kann nicht einfach ein brennendes Streichholz an die Außenwand halten, man müsste für Tests schon die Platten herausbrechen“. Im Landkreis Ravensburg stehen laut Surbeck 48 Häuser, die höher sind als 22 Meter – vor allem im Schussental, aber auch in Leutkirch, Isny und Wangen.
„Es gab auch in Deutschland Fassadenbrände“, sagt Matthias Thuro, Leiter des in Ulm angesiedelten Kompetenzzentrums Brandschutz des TÜV Süd. „Aber die meisten von ihnen waren in der Bauphase entstanden. Wenn die Fassadensysteme fertiggestellt und fachlich korrekt ausgeführt sind, entsprechen sie dem rechtlich vorgegebenen Sicherheitsniveau.“
In Ulm seien die zehn Hochhäuser seit den 1990er-Jahren alle saniert worden, erzählt Hansjörg Prinzing, Brandschutzsachverständiger der Stadt. Dabei seien pro Gebäude bis zu 20 Millionen Euro in die Hand genommen worden. In der Zwischenzeit habe es Brände in den Häusern gegeben, die sich aber nie auf die Fassade oder über das betroffene Stockwerk hinaus ausgeweitet hätten, so Prinzing.
Entwarnung gibt es auch in anderen von der „Schwäbischen Zeitung“befragten Städten. Henning Nöh ist seit 18 Jahren Kreisbrandmeister im Bodenseekreis. „Alle Gebäude, die hier in den letzten 18 Jahren gebaut worden sind, erfüllen die Vorschriften“, berichtet er. In Aalen gibt es ein Hochhaus, das knapp die 22-MeterGrenze erreicht. Laut Feuerwehrkommandant Kai Niedziella reicht dafür die Feuerwehrleiter mit ihrer Länge aus: „Aalen ist jetzt auch nicht Frankfurt am Main.“Es gebe Gebäude, die niedriger sind und eine brennbare Außenfassade haben, so Niedziella, es sei aber nichts passiert.
Alle fünf Jahre überprüft
Nach Angaben des Regierungspräsidiums Tübingen wurden im Südwürttemberg in den 1980er-Jahren insgesamt 123 Hochhäuser und 15 hohe Häuser brandschutzrechtlich nachgerüstet. Wie von der Bauordnung vorgeschrieben, würden die „Sonderbauten“einmal in fünf Jahren bei einer Brandverhütungsschau kontrolliert. Fazit: „Im Regierungsbezirk Tübingen gibt es unseres Wissens derzeit keinen Fall eines Hochhauses oder größeren Mehrfamilienhauses, der mit dem in London vergleichbar wäre.“
Wenngleich sie keine Bedenken bei Gebäuden über der 22-MeterGrenze haben, fordern viele Experten, auch bei niedrigeren Häusern zur Außendämmung nicht brennbare Materialien, wie etwa Steinwolle, zu verwenden. Das Baurecht sieht für solche Gebäude lediglich die Nutzung von „schwer entflammbaren“Dämmungen vor, zu denen der umstrittene Stoff Polystyrol gehört.