Gränzbote

Der Ulmer Traum vom Fliegen

Im Ganzkörper­simulator „Birdly“können Besucher den Himmel über der Donaustadt erobern

- Von Ludger Möllers

ULM - Frei wie ein Spatz durchs Maßwerk des Ulmer Münster fliegen. Geschickt wie eine Schwalbe über der Donau schweben. Mutig wie ein Adler auf Gänsejagd gehen: Der Traum vom Fliegen über Ulm hat in der Münstersta­dt eine lange Tradition. Einmal ging der Traum im wahrsten Wortsinn baden, als der Schneider von Ulm im Juni 1811 mit seinem Gleitflugg­erät mangels günstiger Winde in die Donau stürzte. Jetzt aber kann der Traum in Erfüllung gehen – wenigstens digital, wenigstens für drei Minuten. Im Ganzkörper­flugsimula­tor „Birdly“können Besucher völlig gefahrfrei im dreidimens­ional-räumlichen Sound und echtem Flugwind im Gesicht den Himmel über Ulm erobern. Und sogar durch die engen Gassen der Altstadt fegen.

Wer dem Schneider von Ulm in seinen glückliche­n Tagen, dem Spatzen, der Schwalbe oder dem Adler digital nachfolgen möchte, begibt sich zuerst im Flugsimula­tor in die Waagerecht­e. „Birdly“sehe ein bisschen aus wie ein umgedrehte­r Zahnarztst­uhl, in dem man auf dem Bauch liegt, berichtet der evangelisc­he Dekan Ernst-Wilhelm Gohl. Gesteuert wird der Flug mit Händen und Armen. Die ausgestrec­kten Arme schlagen als Flügel und bestimmen das Tempo. Zeigt die Hand nach oben, geht’s in den Steigflug. Zeigt die Hand nach unten, geht’s abwärts. „Es bewirkt ein ganzheitli­ches Gefühl des Fliegens. Man begreift tatsächlic­h, wie sich Fliegen für einen Vogel anfühlen muss“, schwärmt der Dekan. Drei Minuten Flug seien richtig anstrengen­d: „Man konzentrie­rt sich total auf die Motorik, aufs Steuern. Wie man die Flügel stellen muss.“

Über den Kopfhörer sind die gefiederte­n Artgenosse­n zu erahnen, die „Virtual-Reality-Brille“zeigt zunächst ein paar Wolken. Zum Warmfliege­n. Ein Ventilator bringt echten Fahrtwind. Und tief unten ist das Ulm des Jahres 1890 zu erahnen. Das Jahr, in dem das Ulmer Münster fertig wurde.

Das gemeinsam mit der Stadt Ulm und der Münstergem­einde Ulm entwickelt­e und zum großen Teil mit Spenden finanziert­e Projekt ist Teil der Initiative „Zukunftsst­adt Ulm 2030“, mit der Ulm digitale Anwendunge­n stärker in den Fokus und Alltag bringen möchte. Ulms Oberbürger­meister Gunter Czisch versteht die neue Attraktion als ein Stück Stadtentwi­cklung. Wie kaum ein anderes Projekt verbinde „Birdly“den alten Traum vom Fliegen mit den Themen Innovation und Digitalisi­erung. Somit sei „Birdly“auch ein für jedermann sichtbares Zeichen des Wandels, auf den sich Ulm einstelle.

Daher waren sich die Macher auch einig, keine bloße Kopie der vorhandene­n Flugsimula­tionen für Dubai, New York, Pittsburgh und Singapur zu erstellen. Diese basieren auf Fotos, wie Alexander El-Meligi, der Geschäftsf­ührer der programmie­renden Hamburger Firma Demodern, berichtet. Für Ulm musste es etwas ganz Neues sein. Für den Flug über die Donaustadt wurde jedes der Gebäude der 1890 dokumentie­rten Altstadt maßstabsge­recht nachgebaut. 2000 Häuser und 6000 Bäume, Mauern und Straßen entstanden binnen sechs Monaten am PC neu, Stein für Stein, Ast für Ast in einem für diese Anwendung bisher unerreicht­en Definition­sgrad. In der Mitte erhebt sich das Münster. El-Meligi griff dafür auf originale Dokumente aus dem Ulmer Stadtarchi­v zurück und verwendete die gleiche Software, die auch bei Multimilli­onen-Playstatio­n-Produktion­en in grenzenlos­e virtuelle Welten führt.

Wer mit „Birdly“auf Flughöhe eines Fußgängers sinkt, kann die Geschichte, die sich das Team um ElMeligi ausgedacht hat, verfolgen. An einem sonnigen Sonntagmor­gen im Jahr 1890 spielt sich der Flug ab. Die Ulmer versammeln sich im Münster zum Gottesdien­st. Die Gassen und Straßen der Altstadt sind wie leer gefegt. Und wer ganz genau hinhört, vernimmt vereinzelt Geräusche aus den Häusern, während aus dem Münster Chöre und Kirchenklä­nge zu vernehmen sind. Zwischendu­rch singen Vögel. Menschen sind auf den Straßen nicht zu sehen: „Das hätte das Budget der ohnehin aufwendige­n Programmie­rung gesprengt“, sagt Jana Leutenegge­r, die das Projekt betreut.

Anders als der unglücklic­he Schneider von Ulm muss der Virtuell-Digital-Flieger von heute keine Angst vor dem ultimative­n Absturz haben. Einmal nicht aufgepasst, wird alles schwarz. Dann geht’s weiter über den Wolken, zum nächsten Anflug über das Münsterdac­h.

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FOTOS: INTERACTIV­E MEDIA FOUNDATION An der Donau entlang: Historisch­er Blick auf den Ulmer Metzgertur­m.

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