Scheinriese Erdogan
Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei sieht auf den ersten Blick alles nach einer dauerhaften Zementierung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP aus. Doch der Eindruck täuscht. Erdogans Türkei gleicht immer mehr einer nahöstlichen Despotie, die ohne den Mann an der Spitze nicht existieren kann. Sein Land und er selbst sind isoliert.
Die Kernbestandteile jeder Demokratie – der freie Wettstreit der Ideen und die Kontrolle der Macht – sind in der Türkei außer Kraft gesetzt. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 werden alle Befugnisse auf die Person Erdogans konzentriert. Der Staatschef ist Oberbefehlshaber der Armee, Chef der Regierung, Vorsitzender der Regierungspartei und gebärdet sich als oberster Richter. Im System Erdogan ist keine geordnete Machtübergabe auf eine andere Person vorgesehen: Die AKP hat das Präsidialsystem mit den starken Machtbefugnissen nur deshalb durchgesetzt, weil sie sicher ist, dass Erdogan die Präsidentenwahl in zwei Jahren gewinnen wird.
Doch das System ist auf Sand gebaut. Hochbegabte Experten verlassen das Land. International hat Erdogan die Türkei ins Abseits geführt. Mit den Europäern hat er sich dermaßen überworfen, dass sie Kontakte auf ein Minimum reduzieren. Auch mit den USA gibt es Streit, und Russland ist kein verlässlicher Partner. Im Nahen Osten legt sich der Präsident in der Katar-Krise mit der sunnitischen Führungsmacht SaudiArabien an. Auch hat der Protestmarsch der Opposition gezeigt, dass viele Menschen im Land auf ein Signal des Aufbruchs warten.
Erdogan selbst kann nicht mehr zurück. Ein Kurswechsel hin zu Reform und Rechtsstaat würde seine Macht untergraben. So ist er dazu verdammt, die Rechte seiner Bürger weiter einzuschränken, bei jedem Rückschlag Feinde als Sündenböcke zu nennen und die Staatsgeschäfte immer stärker an sich zu ziehen. Das kann eine Weile lang gut gehen, doch auf Dauer ist er zum Scheitern verurteilt: Sein ganzes Streben gilt nur der Erhaltung der eigenen Macht. Ein Zukunftsmodell für die Türkei ist das System Erdogan nicht.