Eiszeit zwischen Berlin und Ankara
Das deutsch-türkische Verhältnis ist zerrüttet – Doch gegenseitige Abhängigkeiten verhindern endgültigen Bruch
BERLIN - Für die ohnehin schwierigen deutsch-türkischen Beziehungen ist der gescheiterte Putsch vor einem Jahr zur Belastung geworden. Als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Erdogan vergangene Woche beim G20Gipfel traf, sprach sie anschließend von „tief greifenden Differenzen“. Eine Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Berlin und Ankara, ein Jahr nach dem Putschversuch.
Die Spannungen erhöhten sich unmittelbar nach dem Putsch. Kanzlerin Merkel hatte es zunächst als „legitim“bezeichnet, dass Erdogan hart gegen mutmaßliche Putschisten vorging. Doch setzte sich in Ankara schnell das Gefühl fest, die Europäer seien empörter über die Jagd auf die Umstürzler als über den versuchten Staatsstreich selbst. Zur tiefen Sorge, Erdogan wandele sich immer mehr zum Autokraten, die in Berlin, Brüssel und Paris vorherrschten, hatte er selbst beigetragen: Schon am Morgen nach den Angriffen des Militärs bezeichnete er den gescheiterten Aufstand als „Segen Gottes“.
Asyl für türkische Soldaten
Um nicht in die Hände Erdogans zu fallen, beantragten Dutzende türkische Militärangehörige, die auf NatoStützpunkten stationiert waren, in Deutschland Asyl. Die Gewährung des Schutzstatus durch die deutschen Behörden reizte Erdogan zur Weißglut. Er reagierte mit einem Besuchsverbot für Bundestagsabgeordnete, sie durften nicht länger deutsche Soldaten auf dem türkischen Stützpunkt Incirlik besuchen. Ein Affront gegenüber einem Nato-Verbündeten, auf den die Bundesregierung mit dem Abzug der Truppe und der Verlegung nach Jordanien reagierte. Die Zahl der Asylanträge von Türken war nach dem 15. Juli vergangenen Jahres deutlich gestiegen, alleine 209 Diplomaten und 205 Staatsbedienstete suchten in Deutschland Schutz. Im gesamten Jahr 2016 gab es 5742 Asylanträge, in den ersten sechs Monaten diesen Jahres waren es mehr als 3000. „Wir gehen durch ein schweres Gewitter“, umschrieb Außenstaatssekretär Michael Roth die deutsch-türkischen Beziehungen.
Politiker-Auftritte verhindert
Zu Blitzeinschlägen kam es vor dem türkischen Verfassungsreferendum am 16. April, an dem sich auch die Türken in Deutschland beteiligen konnten. Auftritte türkischer Regierungsmitglieder wurden damals untersagt, etwa mit Hinweis auf fehlende Brandschutzvorkehrungen. Erdogan machte die Kanzlerin verantwortlich, warf ihr persönlich „Nazi-Methoden“vor. Vor dem Referendum versprach Erdogan überdies seinen Landsleuten, die Todesstrafe wieder einzuführen, und stellt ein Referendum darüber in Aussicht. Das, so wird in Berlin interpretiert, wäre die endgültige Abkehr von der europäischen Perspektive.
Jagd auf Kritiker in Deutschland
Im Frühjahr wird auch bekannt, dass der türkische Geheimdienst MIT die Hilfe der deutschen Sicherheitsbehörden einfordert, um Jagd auf Erdogan-Kritiker zu machen. Sogar die Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering (SPD) steht auf der Liste. Statt sich als willfähriger Helfer Erdogans einspannen zu lassen, warnt das Bundeskriminalamt die Betroffenen auf den Listen. Der türkische Moscheeverband Ditib gerät unterdessen unter Verdacht, weil einzelne Imame den Spitzelaufrufen aus Ankara nachkommen und Informationen über mutmaßliche Erdogan-Widersacher weitergeben.
Der Incirlik-Streit wurde schließlich durch den Abzug der Soldaten zunächst abgeräumt. Doch die Hoffnung, die deutsch-türkischen Beziehungen würden wieder in ruhigeres Fahrwasser geraten, trügte. Die nächste Eskalation brachte der G20Gipfel: Erdogan wollte das Spitzentreffen der Mächtigen in Hamburg am vorvergangenen Wochenende für einen Auftritt vor seinen Landsleuten nutzen.
Hatte sich die Kanzlerin vor dem Verfassungsreferendum noch vor einer Positionierung gedrückt, zeigte sie nun klare Kante, erteilte Redeverbot für den Präsidenten eines offiziell befreundeten Staates, ein beispielloser Vorgang. „Was ist das, bitte schön, für eine Geisteshaltung? Das ist sehr hässlich!“, giftete Erdogan. „Deutschland begeht Selbstmord.“Auch seine Nazi-Vorwürfe rechtfertigte er, und fuhr Merkel dann auf dem G20-Gipfel in die Parade, als er das Bekenntnis seines Landes zum Pariser Klimaschutzvertrag in Zweifel stellte. Damit sprengte er die Front gegen US-Präsident Donald Trump.
Frisches Geld für Flüchtlingspakt
Das Jahr seit dem Putsch – für die deutsch-türkischen Beziehungen ist es eine verheerende Bilanz. Doch zum Bruch wird es nicht kommen, dafür sind die Abhängigkeiten zu groß. Erdogan ist auf Investitionen aus Deutschland angewiesen, kann die Brücken allen Verbalattacken zum Trotz nicht abbrechen. Und Berlin will verhindern, dass sich Ankara vollständig vom Westen ab- und Russland und der islamischen Welt zuwendet.
Und da ist auch noch der Flüchtlingspakt, mit dem die EU den Zustrom von Syrern und Afghanen gestoppt hat. In Brüssel laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, um den Pakt über dieses Jahr hinaus zu verlängern. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger stellte der Türkei dafür schon drei Milliarden Euro zusätzlich in Aussicht.