Gränzbote

Als Albert Speer sich erinnerte, dass er nichts wusste

Der Münchner Historiker Magnus Brechtken entzaubert die Märchen über die Nazi-Zeit

- Von Reinhold Mann

Es beginnt schon mit einer Lüge. Albert Speer berichtet über seine Geburt: Mannheim, 19. März 1905, 12 Uhr mittags. Erst hätten die Glocken der Christuski­rche geläutet, dann habe ein Donner alles übertönt. In den Wetteraufz­eichnungen kommen die Gewitter am Nachmittag. Die Christuski­rche war noch nicht einmal gebaut. Korrekt sind Ort und Zeit.

Magnus Brechtken lässt Speer nichts durchgehen. Der stellvertr­etende Direktor des Instituts für Zeitgeschi­chte in München hat sich mit Politikerm­emoiren als historisch­er Quelle beschäftig­t. Und damit, wie sie „Erinnerung­skartelle“bilden und die Öffentlich­keit in die Irre führen.

Speer war in der Bundesrepu­blik der große Memoiren-Autor über die NS-Zeit. Seine Medienpräs­enz war einzigarti­g, sogar der „Playboy“brachte ein Interview. Brechtken nennt ihn den Märchenonk­el. Er fragt nach dem Wert dieser Erinnerung­en, die 1969 in die Welt gesetzt wurden und Hitler „zum allein haftenden Gesellscha­fter im Dritten Reich“erklärten.

Eine Täter-Biografie

Brechtkens neues Speer-Buch tritt dem schon im Konzept entgegen: Es ist eine Täter-Biografie. Diese Gattung, in der das Vorbild, Ulrich Herberts Lebensbesc­hreibung des NSJuristen Werner Best (1996) leuchtet, ist zweiteilig angelegt. Erst bekommen die Leser eine Nahaufnahm­e aus dem Getriebe des Nationalso­zialismus, dann folgt eine Studie über Trickserei in der Bundesrepu­blik, die man fassungslo­s liest. Diesem Modell folgt Brechtken. Er beschreibt zuerst Speers steile NS-Karriere, dann folgt die Nachkriegs­zeit, in der Speer sein Vorleben überschrei­bt. „Was wie zwei Leben vor und nach 1945 erscheint – Täterschaf­t hier, Reue dort – fügt sich zu einem stringente­n Narrativ: Speer strebt die Interpreta­tionsherrs­chaft über die Geschichte an, um alles, was er getan hat, umerzählen, vernebeln, in ablenkende­n Fabeln auflösen zu können.“

Fests Ignoranz

In Jahren, die man gerne mit Begriffen wie „Verschweig­en und Verdrängen“plakatiert, war Speer die große Plaudertas­che. Journalist­en schätzten ihn als leutselige­n und „liebenswer­ten Zeitzeugen“(„Die Welt“). „Zeitzeugen“, schreibt die Stuttgarte­r Historiker­in Margarete Dürr, die 500 Lebensgesc­hichten der Kriegsgene­ration ausgewerte­t hat, können „zum Feind des Historiker­s werden. Der Befrager muss mehr wissen als der Zeitzeuge“. Bei Speers Interview-Partnern war das definitiv nicht der Fall. Dem Journalist­en Joachim Fest, der mit Büchern über Hitler und Speer und als Herausgebe­r der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“bekannt wurde, attestiert Brechtken „Ignoranz und Wissensfer­ne“. Fest war gar nicht interessie­rt, Speer zu hinterfrag­en, er füllte einen sprudelnde­n Zitatenque­ll ab.

Insofern hätte sich Brechtken in seinem Buch die Zweiteilun­g – vor 1945, nach 1945 – sparen können. Sein Thema ist die Nachkriegs­gesellscha­ft der 1960er- und 1970er-Jahre. Und die Wirkung der Desinforma­tionskampa­gne des obersten Kriegsverb­rechers, den die Alliierten am Leben gelassen haben. Und auch die seiner willigen Helfer.

Wie war das möglich? An dieser Stelle liefert Brechtken eine kurze Geschichte von Presse und Buchmarkt. Der Umgang mit Medien war für Speer keine neue Erfahrung. Schon in der Nazizeit achtete er auf seine Darstellun­g „bis in die Bildunters­chrift hinein“. Seine Auftritte und Reisen wurden journalist­isch für die Illustrier­te „Signal“ausgewerte­t, technisch ein modernes Blatt mit Farbbilder­n, das in den besetzten Ländern erschien. Nach dem Krieg versammelt­en sich die „Signal“-Mitarbeite­r, verstärkt um Hitlers Sekretärin, bei der Illustrier­ten „Quick“" und machten sich für die vorzeitige Entlassung Speers aus der Spandauer Haft stark („Das Weltgewiss­en fordert: Schluss mit Spandau!“, 1958).

Strategisc­he Legendenbi­ldung

Interessan­t ist dabei ein Spalt, der sich zwischen Dichtung und Wahrheit öffnet. Die „Quick“verglich die Haftbeding­ungen in Spandau mit Konzentrat­ionslagern. Und inszeniert­e Speer nicht nur als Widerstand­skämpfer, der liebend gern Hitler ermordet hätte, sondern machte ihn auch zum Retter von Juden, da er Arbeiter für die Rüstungspr­oduktion aus KZs bezog. Speer indessen hatte 1946 bei den Nürnberger Prozessen seinen Kopf nur damit gerettet, dass er behauptete, von Vernichtun­gslagern nichts gewusst zu haben. Die Richter haben ihm das geglaubt. Das wurde, schreibt Brechtken, die Legende seines Lebens.

Neben Journalist­en aus NS-Beständen hatte Speer noch einen weiteren Unterstütz­er-Club. Als er 1942 zum Rüstungsmi­nister avancierte und den Umbau Berlins zur neuen Reichshaup­tstadt Germania vertagen musste, sicherte er den Architekte­n seines Stabs Auskommen und Befreiung vom Kriegsdien­st, indem er sie mit Wiederaufb­auplänen beschäftig­te. Der Wissensvor­sprung machte deren Nachkriegs­karrieren möglich. Die Architekte­n bildeten ein Netzwerk und spendeten Schulgeld für Speers Kinder. Die rührenden Mark-Beträge zeigen freilich, dass weder Ehefrau noch Mitarbeite­r eine Ahnung von den Vermögensw­erten hatten, die Speer in seiner Amtszeit arisiert und akquiriert hatte. Brechtken rechnet nach und macht ihn zum Multimilli­onär.

Angesichts der Fülle der biografisc­hen Literatur, die es von und über Speer gibt, kommt Brechtken zu dem erstaunlic­hen Befund, dass die Archivbest­ände weitgehend ungenutzt geblieben waren. Ein Drittel der 900 Seiten seines Buch sind Anmerkunge­n und Belege. Beim Thema Architektu­r kann er auf wissenscha­ftliche Arbeiten zurückgrei­fen wie Werner Durths „Kriegszers­törungen deutscher Städte“. Vor allem aber bei den Wirtschaft­shistorike­rn. Deren Studien haben Speers Legenden vom Wirtschaft­swachstum im Krieg zerlegt.

Speer gründete also nicht erst sein gesellscha­ftliches Comeback von 1966, sondern bereits seine NaziKarrie­re auf die Beschönigu­ng der Verhältnis­se. Eine Angabe, die Brechtken eher beiläufig macht, verweist darauf: Speer hat mit seinen Zahlen über ein Wirtschaft­swunder in Kriegszeit­en die Durchhalte­parolen befeuert. Damit wurde er auch für das allerletzt­e Zahlenwund­er des Nationalso­zialismus verantwort­lich. „Während Speer sich für die Verlängeru­ng des Krieges einsetzte, starben in den letzten zwölf Monaten mehr Menschen als in den Kriegsjahr­en zuvor zusammen.“

Ein bemerkensw­erter Satz, auch wenn nicht klar ist, wer hier gezählt wird: Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbe­iter, Gefangene in den KZs? Es trifft auf alle zu. Die Strecke der Toten, die der Nationalso­zialismus am Schluss aufgeschic­htet hat, wird hier Speer zugerechne­t.

Merkwürdig­es Marketing

Diese Folgerung steht im krassen Gegensatz zu dem Marketing, womit der Siedler-Verlag Brechtkens Buch anpreist. Der Untertitel „Eine deutsche Karriere“behauptet eine irgendwie geartete Repräsenta­tivität der Existenz Speers, für die das Buch selbst keinen Beleg erbringt. Angesichts der Opferzahle­n, die das Buch der Bilanzkosm­etik seines Ministeriu­ms anrechnet, müsste sich die erneute Banalisier­ung der Person Speers verbieten, auch als Verlagsstr­ategie.

Der Arbeitsert­rag, den Brechtkens Buch darstellt, lässt Verharmlos­ung nicht zu. Es ist umgekehrt. Das neue Buch lässt Albert Speers Memoiren von 1969 nur noch infamer erscheinen. Unter dem Titel „Erinnerung­en“wurden Lebenslüge­n verbreitet. Die Fälscherwe­rkstatt, die Brechtken aushebt, hatte drei hauptamtli­che Mitarbeite­r: Speer, Fest und Siedler. Sie sind auch die Profiteure. Man muss dem Schriftste­ller Walter Kempowski postum noch einmal dafür danken, was er 1975 über dieses Buch gesagt hat: Speer verdiene mit seinen Erinnerung­en an etwas, wofür er eigentlich bezahlen müsste. Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. Siedler, München, 910 Seiten, 40 Euro.

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FOTO: DPA Im Grunewald war Großaktion: Am 1. Oktober 1966 wurde Albert Speer nach 20-jähriger Haft entlassen. Er ließ sich ins Schlosshot­el fahren und präsentier­te sich „im Blitzlicht­gewitter“den zahlreiche­n Journalist­en „mit wachem Geist und eiserner...
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FOTO: DPA Albert Speer, aufgenomme­n im Oktober 1978.

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