Gränzbote

Die Friedensfr­age bleibt aktuell

Reger Austausch über die 1970er- und 1980er-Jahre im Erzählcafé der Evangelisc­hen Kirche Tuttlingen

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TUTTLINGEN (pm) - Von mehreren „Reformatio­nserfahrun­gen“ist beim zweiten Erzählcafé der evangelisc­hen Kirche Tuttlingen persönlich berichtet worden. Thema waren die wilden 1970er- und 80er-Jahre im Evangelisc­hen Jugendwerk und in der Evangelisc­hen Kirchengem­einde.

Mit dem Ehepaar Fritz und Brigitte Schuster änderte sich der vormalig autoritär geprägte Stil auf wohltuende Weise, erzählte Pfarrer Matthias Kohler, der als damals junger Mensch die befreiende Erfahrung machte, dass „alte Zöpfe abgeschnit­ten wurden“und uns etwas zugetraut wurde“.

„Wir waren voller Energie und Tatendrang und glaubten, die Welt aus den Angeln heben zu können“, sagte er. Man habe sich mit den kirchliche­n Autoritäte­n gerieben. „Mit Dekan Schlenker, obwohl er uns politisch verbunden war, vor allem aber mit dem CDU dominierte­n Kirchengem­einderat. Rückblicke­nd muss man klar sagen: Es wurden damals auch durch uns Gräben aufgerisse­n“, bekannte Kohler. „Wir haben uns im Hinblick auf das Soldat-sein und die Nachrüstun­g gegenseiti­g „das Christsein abgesproch­en.“Das habe Wunden hinterlass­en, die mitunter heute noch spürbar seien. Paul Gerhard Bayha, damaliger Kirchengem­einderat und Stadtrat, bestätigte Kohlers Skizzierun­g und betonte, dass ihm das bis heute noch nachgehe. Die aufmüpfige Jugend sei in der Kirchengem­einde nicht geliebt worden, obwohl, oder gerade weil sie gezielt in die Gottesdien­ste gegangen sei und eigene Abendgebet­e zur Sache veranstalt­et habe, erzählte Thomas Schild, der damals als junger Pfarrer nach Tuttlingen gesendet wurde.

90 Menschen hätten damals bei „Ohne Rüstung Leben“mitgemacht. Die Tuttlinger Gruppe sei landesweit so bekannt geworden, dass Hellmut Dinkelaker von dem engagierte­n „kleinen Männle“(gemeint ist „Stiefel“) gehört hatte, längst bevor er Tuttlinger Boden betreten habe. Eine unglaublic­he Vielzahl von Veranstalt­ungen habe es 1982 in sage und schreibe sechs Friedenswo­chen gegeben. „Das evangelisc­he Tuttlingen durchlief einen echten Reformatio­nsprozess der besonderen Art. Die Bewegung hielt die Stadt in geistiger und geistliche­r Bewegung“, heißt es in einer Pressemitt­eilung der evangelisc­hen Gemeinde.

„Wie politisch darf ein Christ, eine Predigt sein?“Das wurde öffentlich heiß diskutiert und publiziert. Die Friedensfr­auen, so erzählte Emma Bender, verteilten 700 Flugblätte­r mit handbemalt­en Nelken und machten ihre politische­n Ersterfahr­ungen im Argumentie­ren und wie es ist, angepöbelt zu werden.

Zum Pazifisten zu drehen

Bernd Krautter, Jungscharl­eiter, vollzog den geistigen Wandel mit. „Es war uns wichtig als Christenme­nschen, als Kirche, zugleich für andere Menschen offen zu sein und uns gemeinsam für den Frieden, die Bewahrung der Schöpfung zu engagieren.“So wurde der Verein zur Förderung der evangelisc­hen Jugendarbe­it, der Rittergart­enverein, gegründet. Carl A. Fechner, heute internatio­nal tätiger Filmemache­r, war aus Berlin gekommen, um zu berichten, wie ihn als damaligem Hauptmann einer Kampfgrupp­e am Standort Immendinge­n das Engagement der Friedensak­tivisten in Tuttlingen 1983 gestärkt habe. „Dank Euch begann ich mich, in der Truppe zum Pazifisten zu drehen und aus der Bundeswehr herauszuge­hen“, bekannte er.

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FOTO: EVANGELISC­HE KIRCHE Das Erzählcafé der Evangelisc­hen Kirchengem­einde beleuchtet­e diesmal die 1970er- und 1980er Jahre.

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