Die große Abgeordneten-Bilanz
Welcher Parlamentarier aus dem Südwesten fehlte am häufigsten, wer hielt die meisten Reden? – Eine Datenanalyse
RAVENSBURG - Gedränge an der Wahlurne, Jubel und Konfetti wie bei der Abstimmung über die „Ehe für alle“sind im Bundestag eher die Ausnahme. Der Alltag im Plenum ist in der Regel geprägt von einer nüchternen Arbeitsatmosphäre – und fast immer von vielen leeren Sitzen. Auch mit Wortbeiträgen tun sich Abgeordnete aus Baden-Württemberg mal weniger, mal überdurchschnittlich häufig hervor. Dabei waren in der vergangenen Legislaturperiode Hinterbänkler mitunter aktiver als Spitzenpolitiker, Mitglieder der Opposition oft wissbegieriger als Parlamentarier aus einer Regierungsfraktion – das zeigt eine Datenanalyse der „Schwäbischen Zeitung“.
Die wohl wichtigste Erkenntnis: Wer kein Mitglied einer Regierungsfraktion ist, hat mehr Zeit. Denn Oppositionspolitiker sind im Bundestag in der Regel die aktiveren Fragesteller und die fleißigeren Redner – nicht zuletzt, um ihre Fraktion ähnlich sichtbar zu machen wie die zahlenmäßig überlegene Konkurrenz. Beispiel Annette Groth: Die Linken-Abgeordnete aus dem Wahlkreis Bodensee war an 900 Kleinen Anfragen beteiligt. Kleine Anfragen dienen der parlamentarischen Kontrolle der Regierung, entsprechend selten werden sie von Politikern der Großen Koalition eingebracht: Union und SPD bringen es im Schnitt gerade einmal auf zwei Anfragen pro Abgeordnetem.
Linken-Politikerin sehr aktiv
Mit mehr als 1100 dokumentierten Aktivitäten ist Annette Groth zugleich die umtriebigste Oppositionspolitikerin aus dem Südwesten. Beim Thema namentliche Abstimmungen sieht es für ihre Partei hingegen weniger rosig aus: Michael Schlecht aus Mannheim fehlte bei jeder dritten Abstimmung. Auf Nachfrage nennt er häufige Krankheitsfälle als Grund: „Insbesondere hatte ich im letzten Sommer einen Unfall, und es dauerte relativ lange, bis ich dann zum Ende letzten Jahres nach Reha wieder laufen konnte und reisefähig war.“Der 66-jährige Gewerkschafter ist inzwischen pensioniert. Im September tritt er in seinem Wahlkreis nicht mehr an.
„Nicht familienfreundlich“
Auch Kerstin Andreae aus Freiburg, Vizefraktionschefin der Grünen und den Zahlen nach die am wenigsten aktive Oppositionspolitikerin, hat mit 22 Prozent eine vergleichsweise hohe Abwesenheitsquote und fehlte sogar häufiger als Grünen-Chef Cem Özdemir (19 Prozent). Auf Anfrage erklärt Andreaes Sprecherin, dass es für die dreifache Mutter nicht immer möglich sei, an allen Abstimmungen teilzunehmen; einige fänden nach 23 Uhr statt – dies sei „nicht familienfreundlich“. Bei namentlichen Abstimmungen immer anwesend waren der CDU-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis SchwarzwaldBaar, Thorsten Frei, sowie Heinz Wiese, Alois Gerig, Markus Grübel (alle CDU) und Annette Sawade (SPD).
CDU und SPD häufiger präsent
Im Schnitt sind Abgeordnete der Südwest-Landesgruppen von CDU und SPD disziplinierter, wenn es darum geht, Präsenz bei namentlichen Abstimmungen zu zeigen. Die Ausnahme von der Regel: Abgeordnete, die gleichzeitig Mitglied der Regierung sind. Mit einer Abwesenheitsquote von 37 Prozent fehlte Wolfgang Schäuble – Finanzminister und seit 45 Jahren Direktkandidat im Wahlkreis Offenburg – zwar seltener bei Abstimmungen als Sigmar Gabriel (79 Prozent) und Angela Merkel (76 Prozent), war aber doppelt so häufig abwesend wie sein bayerischer Unionskollege und Entwicklungsminister Gerd Müller aus dem Wahlkreis Oberallgäu (18 Prozent).
Die zum Teil großen Unterschiede bei der Abwesenheit baden-württembergischer Politiker relativieren sich allerdings, wenn man die Daten aller 630 Mitglieder des Bundestags betrachtet: Hier haben die Parteien fraktionsübergreifend eine Abwesenheitsquote von knapp acht Prozent. Das war nicht immer so: Ende 2014, ziemlich genau zur Halbzeit der vergangenen Legislatur, fehlten die Linken noch bei mehr als 15 Prozent der namentlichen Abstimmungen.
Brugger mit den meisten Reden
Im Plenum des Bundestags wird natürlich nicht nur abgestimmt, sondern auch diskutiert. Ans Rednerpult treten in der Regel Fachpolitiker der jeweiligen Fraktion. Unter den Abgeordneten aus dem Südwesten hat sich hierbei Agnieszka Brugger besonders hervorgetan: Die GrünenWehrexpertin aus dem Wahlkreis Ravensburg hielt insgesamt 61 Reden oder gab diese zu Protokoll. Unter den Politikern der Großen Koalition liegt der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, mit 51 Wortbeiträgen vorn, gefolgt von CDU-Außenpolitik-Experte Roderich Kiesewetter mit 46 Reden.
Zahlen sind nicht alles
Bei der Bewertung der Zahlen ist allerdings Fairness geboten: Diese sagen nichts über die inhaltliche Qualität der Arbeit von Abgeordneten aus. Nur weil jemand seinen Namen regelmäßig auf in der Fraktion kursierende Anträge setzt, ist er nicht automatisch fleißiger als andere. Hinzu kommt, dass die großen Regierungsfraktionen, Union und SPD, in ihren Anträgen und Kleinen Anfragen keine Abgeordneten-Namen mehr nennen.
Leere Bänke im Plenum sind zudem nicht zwangsläufig ein Hinweis auf Faulheit oder mangelndes Demokratieverständnis. Anders als etwa im britischen Unterhaus leisten Abgeordnete im Bundestag einen großen Teil ihrer Arbeit dort, wo keine Fernsehkameras stehen: in Ausschüssen, Fraktionssitzungen und Arbeitsgruppen.
Wie Abgeordnete aus Ihrem Wahlkreis abgeschnitten haben, sehen Sie online auf unserer interaktiven Karte: www.schwäbische.de/ zahlencheck