Gränzbote

Verhext, verkauft, versklavt

In Baden-Württember­g finden Nigerianer­innen Schutz, die mit einem Zauberbann belegt und zur Prostituti­on gezwungen werden

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Sie möchte Hope heißen. Zu Deutsch: Hoffnung. Eine Dreivierte­lstunde hat sie gerade ihre Geschichte erzählt: Wie sie in ihrer Heimat Nigeria ein Vogelherz essen musste – als Schlusspun­kt eines Rituals, durch das sie mit einem Zauberbann belegt wurde. Wie sie nach Europa geschleust, verkauft, ausgebeute­t wurde. Wie sie Männern ihren Körper geben musste, um Essen zu bekommen und eine Unsumme bei der Zuhälterin abzuzahlen. Wie sie aus Italien nach Baden-Württember­g flüchtete. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht wieder weine. Ich will nicht mehr weinen“, sagt Hope, während sie ihre Erlebnisse erzählt. Nun zeichnet sich zum ersten Mal ein Lächeln auf ihren kakaofarbe­nen Wangen ab, blicken ihre Augen nachdenkli­ch hinaus in den Stuttgarte­r Sonnensche­in, während sie überlegt. Sie soll sich selbst ihr Pseudonym aussuchen, denn ihren echten Namen möchte sie nicht der Öffentlich­keit preisgeben. Hope, Hoffnung, sagt sie lächelnd. Denn Hoffnung hat sie in Deutschlan­d wiedergefu­nden, für sich und ihre Kinder.

Hopes Schicksal gleicht dem vieler Frauen aus Nigeria, weiß Doris Köhncke. Die Theologin leitet das Fraueninfo­rmationsze­ntrum (FIZ) in Stuttgart, das sich als eine von drei Stellen im Land um Opfer von Menschenha­ndel kümmert – auch um Hope. Im Gegensatz zu den Anlaufstel­len „Freija“in Freiburg und Kehl sowie zur „Mitternach­tsmission“in Heilbronn gibt es im FIZ eine eigene Stelle, die sich um Betroffene im Asylverfah­ren kümmert – 2016 waren es 74. Finanziert wird das FIZ vom Land, der Stadt Stuttgart und der Evangelisc­hen Landeskirc­he Württember­g. Ohne Projektmit­tel von der „Aktion Mensch“und der Fernsehlot­terie gäbe es die Stelle für Opfer von Menschenha­ndel im Asylverfah­ren aber nicht. Dank der Projektgel­der, die immer zeitlich befristet sind, kann das FIZ im September eine zweite Stelle einrichten. Den Großteil ihrer Klientinne­n bilden Frauen aus Nigeria, und „ihre Zahl hat in den letzten zwei, drei Jahren massiv zugenommen“, sagt Köhncke.

Beständige­r Menschenha­ndel

Verlässlic­he Zahlen dazu, wie viele Frauen aus Nigeria zur Prostituti­on in Europa gezwungen werden, gibt es nicht. Das erklärt das Europäisch­e Unterstütz­ungsbüro für Asylfragen in einem Bericht von 2015 zum Thema. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechen­sbekämpfun­g kommt zu dem Schluss: „Der Handel mit jungen Frauen von Nigeria nach Europa zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gehört zu den beständigs­ten Bereichen von Menschenha­ndel.“

„Ich würde bei jeder alleinsteh­enden Frau aus Nigeria zunächst denken, dass sie ein Opfer von Menschenha­ndel war“, sagt FIZ-Leiterin Köhncke. Wie sie dazu werden, laufe immer gleich ab. Die jungen Frauen, meist in Notsituati­onen, werden von einer Vertrauens­person angeworben – von einer Verwandten, von der Nachbarin. In der Regel sind es Frauen, die Symbole für Wohlstand, etwa ein schönes Haus, vorweisen können. Das Geld dafür sei von einem Verwandten aus Europa geschickt worden. Europa – das klingt verheißung­svoll. „Dann sehen viele Frauen ihre Chance“, sagt Köhncke.

Die meisten Betroffene­n kommen aus dem Bundesstaa­t Edo im Süden des westafrika­nischen Landes. Die Hauptstadt Benin-Stadt mit ihrem armen Hinterland ist das Reservoir, aus dem die Menschenhä­ndler schöpfen. Die Besonderhe­it hier ist der Juju-Schwur, eine pseudoreli­giöse Voodoo-Praktik, mit der die Frauen gefügig gemacht werden. „Die meisten Frauen sind Christen“, sagt Köhncke, „aber sie glauben trotzdem daran, dass das wirkt.“

Aus Benin-Stadt kommt auch die 41-jährige Hope. Ihr Vater starb, es gab große Probleme mit dem Stiefvater. Also ließ sie sich 2010 von einer Bekannten anwerben, nach Europa zu gehen. Doch zuerst wurde sie zu einem Medizinman­n ins 300 Kilometer entfernte Lagos gebracht, um den Juju-Schwur zu leisten. Hope erzählt von der Angst, die sie bei dem Ritual hatte. Ihr wurden die Kleider weggerisse­n, Haare abgeschnit­ten – auf dem Kopf, unter den Achseln, im Schamberei­ch. Der Medizinman­n schlachtet­e Geflügel. „Ich musste das Herz essen“, berichtet Hope. Durch den Ritus war sie nun mit einem Bann belegt. Sie verpflicht­ete sich damit, das Geld für den Transport nach Europa und für die gefälschte­n Dokumente zurückzube­zahlen. „Sie haben mir gesagt, wenn ich nicht gehorche, passieren mir und meiner Familie schlimme Dinge.“Ihre Haare kamen in ein Päckchen, das der Medizinman­n behielt. Damit, so die Idee des VoodooSchw­urs, hat er weiter Macht über sie.

Schon auf dem langen Weg nach Italien musste Hope ihren Körper für Essen verkaufen, wie sie sagt. Endpunkt: Neapel. Hier landen laut FIZLeiteri­n Köhncke die meisten Nigerianer­innen in Hopes Situation. Laut einem Bericht der Internatio­nalen Organisati­on für Migration vom Juli kamen im vergangene­n Jahr rund 11 000 Frauen aus Nigeria in Italien an – 75 Prozent davon seien potenziell­e Opfer von Menschenha­ndel zur sexuellen Ausbeutung. Erst nach ihrer Ankunft hat Hope erfahren, dass sie nun einer Madame gehöre. Und dass sie dieser Madame 40 000 Euro schulde, die sie mit Prostituti­on abzuarbeit­en habe. Der Menschenha­ndel mit nigerianis­chen Frauen ist fest in Frauenhand, erklärt Köhncke. Jede Zuhälterin, genannt Madame, hat ein Netzwerk an Helfern, die sich darum kümmern, dass die Frauen in Italien ankommen und durch Prostituti­on ihre angebliche­n Schulden abbezahlen – meist zwischen 40 000 und 60 000 Euro. Die Madames waren meist selbst Opfer und wurden später zu Täterinnen, die andere Frauen anwerben und zwingen, für sie zu arbeiten. „Das ist auch eine Überlebens­strategie“, sagt Köhncke.

Sechs Monate ging Hope in Neapel auf den Strich. Ihre Freier schlugen sie, das Geld nahmen ihr die Helfer der Madame ab und schüchtert­en sie ein: „Wenn du dich zierst, stirbst du. Niemand wird hier nach dir suchen“, erinnert sich Hope an die Drohungen ihrer Peiniger. Als es zu schlimm wurde, rief Hope die Polizei. Auch in Italien gebe es Schutzprog­ramme für Frauen wie sie, doch diese seien nur auf ein Jahr angelegt, sagt Hope. Dann stand sie wieder auf der Straße, ohne Wohnung, ohne Unterstütz­ung, aber mit zwei kleinen Kindern, deren Vater aus Italien zurück in die Karibik abgeschobe­n worden war. Mit ihren Kindern schlief sie im Freien, bettelte, stahl das Nötigste. Die Angst war ihr ständiger Begleiter – vor den Handlanger­n der Madame, aber auch vor dem italienisc­hen Staat. Hope hatte Angst, dass man ihr die Kinder wegnehmen würde. „Das war furchtbar. Ich hatte ständig Angst, entdeckt zu werden“, sagt sie.

Eine Freundin weckte in Hope die Idee, nach Deutschlan­d zu gehen. „Sie hat gegoogelt und gesagt, in Deutschlan­d helfen sie Frauen wie Dir.“2015 machte sie sich mit ihren Kindern auf den Weg und landete in einer Unterkunft in Stuttgart. Sie fand eine Info-Broschüre des FIZ in den Unterlagen, die sie bei ihrer Ankunft bekommen hatte. „Sie haben mir sehr geholfen“, sagt Hope.

Anerkennun­gsquote steigt

Bis Mitte 2016 kümmerten sich nur Baden-Württember­g, Bayern und Nordrhein-Westfalen um Asylsuchen­de aus Nigeria. Mittlerwei­le gibt es diese Zuordnung nicht mehr. Wie ein Sprecher des Stuttgarte­r Innenminis­teriums erklärt, waren unter den rund 98 000 Menschen, die 2015 nach Baden-Württember­g flüchteten, knapp 2000 Nigerianer – rund ein Fünftel davon Frauen. 2016 waren unter den 33 000 Asylsuchen­den knapp 1900 Menschen aus Nigeria und davon gut ein Viertel Frauen. Der Anteil der Nigerianer an Asylsuchen­den stieg damit von etwa zwei auf knapp sechs Prozent und weiter auf gute elf Prozent im ersten Halbjahr 2017, als unter den 7300 Asylsuchen­den rund 800 Nigerianer waren – wieder ein Viertel davon Frauen.

Die Anerkennun­gsquote für Menschen aus Nigeria ist in den vergangene­n Jahren kontinuier­lich gestiegen. Nach Zahlen des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (Bamf) lag der Wert 2014 bei 6,6 Prozent und erreichte im ersten Halbjahr 2017 die Quote von 15,8 Prozent. Die Schutzquot­e für Frauen ist allerdings deutlich höher als für Männer, wie Zahlen für 2016 zeigen. In 5,5 Prozent der Fälle entschied das Bamf positiv über die Anträge von Männern, bei Frauen lag der Wert bei 15,5 Prozent.

Für viele der Frauen sei das FIZ ein geschützte­r Raum – einer, in dem sie erstmals ihre Geschichte erzählen, erklärt Köhncke. „Manche reden von allein, viele haben aber Angst wegen des Juju-Schwurs.“Wenn die Frauen verstehen, dass die FIZ-Mitarbeite­rinnen den Zauberbann kennen, sprechen die meisten aber doch.

Zur Arbeit des FIZ gehört, den Frauen zunächst das deutsche Asylsystem zu erklären und sie auf die Anhörung durch Mitarbeite­r des Bamf vorzuberei­ten. Als Opfer von Menschenha­ndel gelten sie als besonders schutzbedü­rftig. Das FIZ informiert die Frauen darüber, dass sie ein Anrecht auf eine Bamf-Anhörung mit einer Frau haben. Es gibt auch Sonderanhö­rerinnen für Opfer von Menschenha­ndel, erklärt eine BamfSprech­erin. Da diese aber rar sind, könne sich die Wartezeit bis zur Anhörung verlängern.

„Das ist der asylrechtl­iche Weg“, erklärt Köhncke. „Dazu kommt die psychosozi­ale Beratung.“Die Frauen würden mürbe, während sie auf ihre Anhörung und den Asylentsch­eid warten. Dazu kommt, dass sie zum Teil weiter in Angst vor den Häschern ihrer Madame leben. „Ich hatte eine Frau, die zwei Mal im Supermarkt angesproch­en wurde“, sagt Köhncke. Die Frauen sorgten sich zudem um ihre Familien zu Hause. Oft würden diese von den Helfern der jeweiligen Madame terrorisie­rt.

Eine Zukunft für die Kinder

Auch Hope erzählt davon, dass ihre Familie heimgesuch­t wurde – sie gibt sich die Schuld daran. Ihre Mutter ist spurlos verschwund­en. Das weiß sie durch Telefonate mit ihrer Schwester. Den Kontakt mit ihr will Hope aber nicht mehr pflegen. „Sie sagt immer, ich soll sie auch nach Deutschlan­d holen, aber wie soll ich das denn machen?“Hope will sich auf ihr Leben und das ihrer Kinder konzentrie­ren. Sie waren ihr Grund, nach Deutschlan­d zu fliehen. „Wenn ich nicht weggerannt wäre, wäre ich vielleicht schon tot“, sagt sie.

Ihre nächsten Ziele: sich von Landsleute­n fernhalten, um nicht die Helfer ihrer Madame auf ihre Fährte zu locken. Eine Wohnung finden, um aus der Gemeinscha­ftsunterku­nft rauszukomm­en. Einen Kindergart­enplatz für ihren Vierjährig­en finden – ihre fünfjährig­e Tochter hat bereits einen. Für sich selbst hat sie auch Pläne. Erst Deutsch lernen, sagt Hope. Und dann, mit einem Lächeln: „Ich möchte Köchin werden.“

„Ich muss aufpassen, dass ich nicht wieder weine.“Die Nigerianer­in Hope beim Erzählen ihres Schicksals

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FOTO: AFP Die meisten Nigerianer­innen, die Opfer von Menschenha­ndel zur sexuellen Ausbeutung werden, kommen aus Benin-Stadt, der Hauptstadt des Bundesstaa­tes Edo, und deren ärmlichem Umland. Vor ihrem Transport nach Europa werden sie oft schon dort zur...

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