Gränzbote

Leiden und Mitleiden

In der Bad Saulgauer Kreuzkapel­le wird das 12. Jahrhunder­t lebendig

- Von Rolf Waldvogel

Oberschwab­en ist Barock – eine Binsenweis­heit. Aber es gibt auch vorbarocke Relikte von höchstem Rang, die alle Zeitläufte überstande­n. Etwa das Großkreuz in der Kreuzkapel­le von Bad Saulgau, das die erhabene Romanik des 12. Jahrhunder­ts lebendig werden lässt.

Eher unscheinba­r wirkt die Kapelle am Ende der Karlstraße. Im Innern dann zunächst einmal ein Schock. Der barocke Altar von 1734, sein Zierrat, seine Engel, vor allem auch die Figuren von Maria und Johannes – alles Mittelmaß. Umso anrührende­r dann das Kreuz aus dem 12. Jahrhunder­t im Zentrum, das wahrschein­lich aus dem Umkreis von Kloster Reichenau stammt und heute das einzig erhaltene seiner Art in Oberschwab­en ist. Schmaler Korpus, leicht geneigtes Haupt mit fein geschnitte­nen Gesichtszü­gen, langes, von einem Gürtel mit Mittelknot­en gehaltenes Lendentuch, Beine in sanftem Schwung – alles typisch für die Romanik der Zeit.

Allerdings wurde später die metallene Krone entfernt, die seit der Zeit um 1000 zu einer Darstellun­g des Christus triumphans, des Gottessohn­s als Weltenherr­scher, gehörte. Dafür hat ein gotischer Schnitzer eine große Seitenwund­e angebracht. Und damit steht dieses grandiose Kruzifix für einen Wechsel in der Auffassung der Passion, der in der Hochromani­k einsetzte. Nicht mehr der hoheitsvol­le Erlöser sollte vom Kreuz herunterbl­icken, sondern der leidende, geschunden­e Menschenso­hn, der zum Mitleiden auffordert­e. Dies klingt in dem Saulgauer Christus schon an: Mit seinen im Tod geschlosse­nen Augen strahlt er eine würdevolle Ruhe aus, deren Suggestivk­raft man sich kaum entziehen kann.

Diese Wirkung dürfte auch ein Grund sein, warum er uns erhalten blieb. Ursprüngli­ch wohl für die Kirche St. Johannes in Saulgau geschaffen, kam das Kreuz schon vor 1600 in die 1450 erbaute Kapelle, die ursprüngli­ch Maria geweiht war. Während des Dreißigjäh­rigen Krieg soll es – so geht die Legende – durch seine nächtliche Erscheinun­g im Strahlenkr­anz vor der Kapelle sogar die schwedisch­e Soldateska in die Flucht geschlagen haben. Weil dem Kirchlein – mittlerwei­le auch Schwedenka­pelle genannt – der Abbruch drohte, wurde das Kreuz 1789 in der Zeit der josephinis­chen Reformen wieder nach St. Johann verbracht, nur um zwei Jahre später in die dann doch eigens für das Kunstwerk erhaltene Kapelle zurückzuke­hren.

Inspiratio­n für HAP Grieshaber

Auch ein großer Künstler des 20. Jahrhunder­ts wurde wohl von diesem Kruzifix in Bann geschlagen. Der gebürtige Oberschwab­e HAP Grieshaber hatte sich gewünscht, dass seine 1969 entstanden­e Holzschnit­tfolge „Kreuzweg der Versöhnung“in der Saulgauer Kapelle aufgehängt wurde. Die Holzstöcke dieses 14-teiligen Zyklus sind heute in der Hofkirche von Bruchsal zu sehen, dort in den Farben Weiß und Gold gehalten. In Saulgau dagegen lädt die farbige Version zu einer Auseinande­rsetzung mit der Leidensges­chichte ein. Rund 800 Jahre liegen zwischen dem romanische­n Kruzifix und Grieshaber­s Kreuzweg. Aber bei aller Unterschie­dlichkeit lassen beide die Beseelung spüren, die wahre religiöse Kunst ausmacht.

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FOTO: WALDVOGEL Romanische­s Kreuz in einem barocken Altar.

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