„Es muss etwas passieren. Nicht nur einmal“
Vorhaben der Landesregierung, das nächtliche Alkoholverkaufsverbot zu kippen, wird in Tuttlingen kritisiert
TUTTLINGEN - Es wird vorerst der letzte trockene Sommer sein. Spätestens im Herbst will die grün-schwarze Landesregierung das nächtliche Alkoholverkaufsverbot aufheben. Dann dürfen Tankstellen und Geschäfte nach 22 Uhr wieder Bier und Hochprozentiges verkaufen. Die bevorstehende Entscheidung sorgt bereits jetzt für Katerstimmung.
„Wir sind nicht glücklich mit der angekündigten Änderung“, sagt Stadtsprecher Arno Specht zur möglichen Aufhebung des Verbots, das seit 2010 besteht. Schließlich habe man in Tuttlingen sehen können, wie gut sich Brennpunkte hätten entkrampfen lassen. Als Beispiel nennt Specht die Alte Festhalle. Dort wären vor Jahren immer wieder Partys ausgeartet. Die Feiernden hätten sich, erklärt der Stadtsprecher, nachts spontan mit unbegrenzten Mengen Alkohol versorgen können. „Mit dem Verbot haben wir gemerkt, dass sich die Lage entspannt.“
Hemmschwelle sinkt, Gewaltbereitschaft steigt
Und mit zunehmender Promillezahl werden die Probleme größer. Die Hemmschwelle sinkt und die Gewaltbereitschaft steigt, sagen Regina Storz-Irion aus dem Vorstand des Tuttlinger Frauenhauses und Christoph Heieis, Berater der Fachstelle Sucht. „Je später die Nacht, desto gewalttätiger wird es“, meint Heieis. Ruhestörungen, Sachbeschädigungen und Schlägereien.
Die Auswirkungen der Aufhebung würden negative Folgen für die Bevölkerung und die Polizei haben, ahnt Jürgen Vogler, Tuttlinger Bezirksvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPoLG). „Vieles passiert unter Alkoholeinfluss. Es wird extremer werden.“
Die Möglichkeiten der Polizei gegenüber betrunkene Personen einzugreifen, sind – gerade an Wochenenden – begrenzt. Der Respekt schwindet. Das zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik für Baden-Württemberg 2016. Die Gewalttaten an Polizisten nahmen um zwölf Prozent zu, erreichten mit 4394 Fällen und fast 2200 verletzten Beamten einen Höchststand. „Wir waren mit dem Verkaufsverbot zufrieden und sind überhaupt nicht glücklich, dass das jetzt fällt. Mir tun die Kollegen leid, die am Wochenende nachts unterwegs sein müssen“, sagt Vogler. Die Chance, Verstärkung gegen alkoholisierte Täter zu bekommen, sei gering. Es seien nicht genug Polizisten im Dienst. „Auf dem Revier sitzt keiner rum und wartet, dass es was zu tun gibt“, sagt Vogler, der dennoch die Hoffnung hat, dass sich die Probleme in Grenzen halten. „Aber ich habe Angst und Befürchtungen. Schade, dass die Politik anders entschieden hat und weiß, dass Probleme auf die Polizei zukommen.“
Mehr häusliche Gewalt muss es nicht geben, sagt Regina Storz-Irion. Alkohol sei zwar häufig im Spiel, wenn es um Handgreiflichkeiten in Beziehungen geht. „Ursächlich für die Gewalt sind aber die häuslichen Strukturen“, sagt Storz-Irion vom Frauenhaus. Es sei nicht gut, wenn das Verbot fallen würde. Zwar wären die jungen Leute, die dadurch einfacher an mehr Alkohol kommen würden, nicht die eigentliche Clintel des Frauenhauses. „Aber Verbote bauen Hürden auf“, so Storz-Irion, die fragt: „Warum werden Dinge nicht bewahrt, mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat?“
Auch für Christoph Heieis machte das Verbot Sinn. Allerdings ist für ihn das Stoppzeichen ab 22 Uhr an der Ladentheke nicht die Lösung. „Verbote können umgangen werden. Wer saufen will, kann saufen. Der holt sich den Alkohol vorher. Wir müssen die Menschen stark machen, selbst zu entscheiden“, sagt der Berater der Fachstelle Sucht. Es werde in der Prävention durch Polizei, Krankenkassen oder die Beratungsstelle schon einiges gemacht. Aber es könne mehr getan werden, um aufzuzeigen, welchen Schaden übermäßiges Trinken verursache. Auch wenn es Fortschritte gegeben habe und das Komasaufen von Jugendlichen zurückgegangen sei, sei Alkohol immer noch zu gesellschaftsfähig. „Alkohol ist überall dabei. Es heißt nicht: alles oder nichts. Die Menschen müssen selbst das Maß finden.“
Stadt darf Verbote aussprechen – allerdings nur gut begründet
Das gilt auch für Tuttlingen. Wird das Gesetz nach der Sommerpause aufgehoben, muss die Kommune entscheiden, ob sie an bestimmten Orten oder für eine begrenzte Zeit Verbote ausspricht. Die Hürden dafür, so Stadtsprecher Specht, wären aber hoch. „Wir können nicht einfach so einen 22-Uhr-Erlass für Tuttlingen beschließen. Das muss gut begründet werden. Wir können eigentlich nur auf einen Problempunkt reagieren.“Auch Vogler meint: „Es muss etwas passieren. Nicht nur einmal. Bis sich ein Brennpunkt herauskristallisiert.“Allerdings, sagt Specht , gebe es in der Innenstadt kaum Verkaufsstellen wie es in der Konstellation Alte Festhalle mit naher Tankstelle gab. „Die Tankstellen sind an der Peripherie und da läuft keiner raus, um Alkohol zu kaufen.“