Gränzbote

„Es muss etwas passieren. Nicht nur einmal“

Vorhaben der Landesregi­erung, das nächtliche Alkoholver­kaufsverbo­t zu kippen, wird in Tuttlingen kritisiert

- Von Matthias Jansen

TUTTLINGEN - Es wird vorerst der letzte trockene Sommer sein. Spätestens im Herbst will die grün-schwarze Landesregi­erung das nächtliche Alkoholver­kaufsverbo­t aufheben. Dann dürfen Tankstelle­n und Geschäfte nach 22 Uhr wieder Bier und Hochprozen­tiges verkaufen. Die bevorstehe­nde Entscheidu­ng sorgt bereits jetzt für Katerstimm­ung.

„Wir sind nicht glücklich mit der angekündig­ten Änderung“, sagt Stadtsprec­her Arno Specht zur möglichen Aufhebung des Verbots, das seit 2010 besteht. Schließlic­h habe man in Tuttlingen sehen können, wie gut sich Brennpunkt­e hätten entkrampfe­n lassen. Als Beispiel nennt Specht die Alte Festhalle. Dort wären vor Jahren immer wieder Partys ausgeartet. Die Feiernden hätten sich, erklärt der Stadtsprec­her, nachts spontan mit unbegrenzt­en Mengen Alkohol versorgen können. „Mit dem Verbot haben wir gemerkt, dass sich die Lage entspannt.“

Hemmschwel­le sinkt, Gewaltbere­itschaft steigt

Und mit zunehmende­r Promilleza­hl werden die Probleme größer. Die Hemmschwel­le sinkt und die Gewaltbere­itschaft steigt, sagen Regina Storz-Irion aus dem Vorstand des Tuttlinger Frauenhaus­es und Christoph Heieis, Berater der Fachstelle Sucht. „Je später die Nacht, desto gewalttäti­ger wird es“, meint Heieis. Ruhestörun­gen, Sachbeschä­digungen und Schlägerei­en.

Die Auswirkung­en der Aufhebung würden negative Folgen für die Bevölkerun­g und die Polizei haben, ahnt Jürgen Vogler, Tuttlinger Bezirksvor­sitzender der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPoLG). „Vieles passiert unter Alkoholein­fluss. Es wird extremer werden.“

Die Möglichkei­ten der Polizei gegenüber betrunkene Personen einzugreif­en, sind – gerade an Wochenende­n – begrenzt. Der Respekt schwindet. Das zeigt die Polizeilic­he Kriminalst­atistik für Baden-Württember­g 2016. Die Gewalttate­n an Polizisten nahmen um zwölf Prozent zu, erreichten mit 4394 Fällen und fast 2200 verletzten Beamten einen Höchststan­d. „Wir waren mit dem Verkaufsve­rbot zufrieden und sind überhaupt nicht glücklich, dass das jetzt fällt. Mir tun die Kollegen leid, die am Wochenende nachts unterwegs sein müssen“, sagt Vogler. Die Chance, Verstärkun­g gegen alkoholisi­erte Täter zu bekommen, sei gering. Es seien nicht genug Polizisten im Dienst. „Auf dem Revier sitzt keiner rum und wartet, dass es was zu tun gibt“, sagt Vogler, der dennoch die Hoffnung hat, dass sich die Probleme in Grenzen halten. „Aber ich habe Angst und Befürchtun­gen. Schade, dass die Politik anders entschiede­n hat und weiß, dass Probleme auf die Polizei zukommen.“

Mehr häusliche Gewalt muss es nicht geben, sagt Regina Storz-Irion. Alkohol sei zwar häufig im Spiel, wenn es um Handgreifl­ichkeiten in Beziehunge­n geht. „Ursächlich für die Gewalt sind aber die häuslichen Strukturen“, sagt Storz-Irion vom Frauenhaus. Es sei nicht gut, wenn das Verbot fallen würde. Zwar wären die jungen Leute, die dadurch einfacher an mehr Alkohol kommen würden, nicht die eigentlich­e Clintel des Frauenhaus­es. „Aber Verbote bauen Hürden auf“, so Storz-Irion, die fragt: „Warum werden Dinge nicht bewahrt, mit denen man gute Erfahrunge­n gemacht hat?“

Auch für Christoph Heieis machte das Verbot Sinn. Allerdings ist für ihn das Stoppzeich­en ab 22 Uhr an der Ladentheke nicht die Lösung. „Verbote können umgangen werden. Wer saufen will, kann saufen. Der holt sich den Alkohol vorher. Wir müssen die Menschen stark machen, selbst zu entscheide­n“, sagt der Berater der Fachstelle Sucht. Es werde in der Prävention durch Polizei, Krankenkas­sen oder die Beratungss­telle schon einiges gemacht. Aber es könne mehr getan werden, um aufzuzeige­n, welchen Schaden übermäßige­s Trinken verursache. Auch wenn es Fortschrit­te gegeben habe und das Komasaufen von Jugendlich­en zurückgega­ngen sei, sei Alkohol immer noch zu gesellscha­ftsfähig. „Alkohol ist überall dabei. Es heißt nicht: alles oder nichts. Die Menschen müssen selbst das Maß finden.“

Stadt darf Verbote ausspreche­n – allerdings nur gut begründet

Das gilt auch für Tuttlingen. Wird das Gesetz nach der Sommerpaus­e aufgehoben, muss die Kommune entscheide­n, ob sie an bestimmten Orten oder für eine begrenzte Zeit Verbote ausspricht. Die Hürden dafür, so Stadtsprec­her Specht, wären aber hoch. „Wir können nicht einfach so einen 22-Uhr-Erlass für Tuttlingen beschließe­n. Das muss gut begründet werden. Wir können eigentlich nur auf einen Problempun­kt reagieren.“Auch Vogler meint: „Es muss etwas passieren. Nicht nur einmal. Bis sich ein Brennpunkt herauskris­tallisiert.“Allerdings, sagt Specht , gebe es in der Innenstadt kaum Verkaufsst­ellen wie es in der Konstellat­ion Alte Festhalle mit naher Tankstelle gab. „Die Tankstelle­n sind an der Peripherie und da läuft keiner raus, um Alkohol zu kaufen.“

 ?? FOTO: BERND WEISSBROD/DPA ?? An Tankstelle­n soll bald wieder Alkohol verkauft werden dürfen. Das Verbot will die Landesregi­erung nach der Sommerpaus­e kippen. In Tuttlingen befürchten die Stadt, die Polizeigew­erkschaft, Frauenhaus und Suchtberat­ungsstelle negative Auswirkung­en.
FOTO: BERND WEISSBROD/DPA An Tankstelle­n soll bald wieder Alkohol verkauft werden dürfen. Das Verbot will die Landesregi­erung nach der Sommerpaus­e kippen. In Tuttlingen befürchten die Stadt, die Polizeigew­erkschaft, Frauenhaus und Suchtberat­ungsstelle negative Auswirkung­en.

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