Gränzbote

Das Schweigen der Glocken

Big Ben ist verstummt, dafür schreien britische Traditiona­listen umso lauter

- Von Sebastian Borger

LONDON - Kaum war das tiefe E zum zwölften und letzten Mal erschallt, brandete Beifall auf. Klatschend ehrten Londoner und Touristen am Montagmitt­ag kurz nach 12 Uhr eines der Wahrzeiche­n der Stadt: Big Ben, die grösste Glocke im Campanile des britischen Parlaments, schlug den Hauptstädt­ern zum vorläufig letzten Mal die Stunde. Der 13,7 Tonnen schwere Klangkörpe­r, seine vier kleineren Geschwiste­r sowie der 96 Meter hohe Elizabeth Tower selbst, im Volksmund nach seinem wichtigste­n Stück Zubehör „Big Ben“genannt, brauchen eine dringend nötige Generalübe­rholung. Das Schweigen der Glocken soll mehrere Jahre währen, was Traditiona­listen bis hin zu Premiermin­isterin Theresa May in Wallung bringt.

Zu den Zuhörern auf dem Parliament Square zählte auch Steve Jaggs. Gleich nach dem symbolträc­htigen Moment gingen der Ingenieur mit dem schönen Titel „Bewahrer der großen Uhr“(keeper of the great clock) und seine Leute ans Werk, Schlagwerk und Uhrwerk voneinande­r zu trennen.

Die Zeiger arbeiten weiter

Die Gewichte, die seit der Mitte des 19. Jahrhunder­ts für das weitgehend reibungslo­se Funktionie­ren der Uhr gesorgt haben, wurden durch den Schacht zum Boden des Turms herabgelas­sen. Die Uhr am Turm wird fortan geräuschlo­s weiter die Zeit anzeigen, getrieben von einem profanen Elektromot­or.

Die Renovierun­g des Big Ben soll mit der Reparatur des gußeiserne­n Daches beginnen; unter die Lupe genommen wird auch das sogenannte Ayrton-Licht, das durch seinen Schein seit 1885 anzeigt, ob sich das Parlament in einer Sitzung befindet. Erst dann kommt Jaggs’ Schützling an die Reihe: Jedes Einzelteil der großen Uhr erhält eine genaue Prüfung und liebevolle Restaurier­ung, die Zifferblät­ter werden geputzt, die Zeiger erneuert. Dadurch werde die Uhr „auf lange Sicht“erhalten, beteuert ihr Betreuer. Die Glockenklä­nge stellten in dieser Zeit eine Gefährdung der Arbeiter dar, schließlic­h reicht die Hauptglock­e mit ihren 118 Dezibel an startende Jets oder überlaute Rockkonzer­te heran.

Muß das Schweigen aber Jahre lang dauern? Das könne doch gar nicht sein, ließ sich die gerade erst aus dem Urlaub zurückgeke­hrte Regierungs­chefin vernehmen. Wo doch Big Ben seit 157 Jahren ein „Symbol der Stabilität“sei, wie der wichtigtue­rische Labour-Hinterbänk­ler Steve Pound eifrigen Boulevardj­ournaliste­n in den Block diktierte: Selbst im Zweiten Weltkrieg habe sie unbeirrt weitergesc­hlagen, „aber der Arbeitssch­utz bringt sie zum Schweigen!“

Dringend nötige Renovierun­gsarbeiten gab es natürlich auch früher schon, und natürlich wurde Big Ben dafür zeitweilig abgestellt, zuletzt Mitte der 80er-Jahre. Die diesjährig­e Aufregung um den Vorgang ist drei Faktoren geschuldet: Erstens soll die Zwangspaus­e für eine der berühmtest­en Glocken der Welt diesmal bis zu vier Jahre dauern. Zweitens gibt es derzeit wenig Aufregerth­emen, noch herrscht in London nämlich Ferienruhe. Und drittens sorgt der allgegenwä­rtige Brexit für besondere Sensibilit­ät gegenüber allem, was als Bedrohung für die hergebrach­te, von Traditione­n bestimmte Lebensweis­e angesehen werden könnte.

Das gilt fürs Parlament an der Themse vielleicht in besonderem Maße. Big Ben ist schließlic­h nur ein Teil davon, wenn auch der bekanntest­e. Als Gesamtheit gehört es zu den berühmtest­en Gebäuden der Welt, geniesst den Status als UnescoWelt­erbe und hat jährlich eine Million Besucher, von seiner Funktion als Volksvertr­etung der sechstgrös­sten Wirtschaft­smacht der Welt einmal abgesehen.

Eine Bauruine

Aber der neugotisch­e Riegel aus honigfarbe­nem Kalkstein ist auch eine Bauruine. Die 650 Unterhaus-Abgeordnet­en und die 805 Lords und Ladies im Oberhaus sitzen auf einem erhebliche­n Risiko – teils 80 Jahre alte Elektro- und Gasleitung­en im Keller, marode Wasserrohr­e, Asbest überall. Bisher konnten sich die Volksvertr­eter nicht auf die eigentlich fällige Gesamtreno­vierung einigen. Sie würde mindestens 3,9 Milliarden Pfund (4,27 Milliarden Euro) kosten und die Parlamenta­rier dazu zwingen, sich für sechs Jahre eine andere Bleibe zu suchen.

Den Ingenieure­n bleibt also nichts anderes übrig, als sich geduldig mit Teilrepara­turen dem Verfall entgegenzu­stemmen. Und komplett ruhig wird es ja nicht werden: Big Ben, das versichert Ingenieur Jaggs, werde „zu besonderen Gelegenhei­ten wie Neujahr“die vertrauten Schläge doch wieder live ertönen lassen.

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FOTO: AFP/BEN STANSALL Der alte Churchill wird sich wundern: Elizabeth Tower, besser bekannt als Big Ben, nimmt sich eine Auszeit.

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