Gränzbote

Brennende Hingabe an ein Meisterwer­k

Aribert Reimanns „Lear“begeistert bei den Salzburger Festspiele­n

- Von Katharina von Glasenapp

SALZBURG - Aribert Reimanns Oper „Lear“, 1978 an der Bayerische­n Staatsoper in München uraufgefüh­rt, ist sicher eines der Hauptwerke des 20. Jahrhunder­ts. Nach Schostakow­itschs „Lady Macbeth von Mzensk“, Bergs „Wozzeck“und Verdis „Aida“reiht sich das Königsdram­a nach Shakespear­e nun mit einer großartige­n Sängerbese­tzung, fasziniere­nden Klängen und in einer intensiven Inszenieru­ng in die Höhepunkte der Salzburger Festspiels­aison ein. Gerald Finley begibt sich voll und ganz in die Rolle des alternden Königs, Anna Prohaska ist die anrührende Cordelia, Partien, die bei der Uraufführu­ng auf exemplaris­che Weise von Dietrich Fischer-Dieskau und seiner Gattin Julia Varady verkörpert worden waren.

Die außergewöh­nliche Bühne der Salzburger Felsenreit­schule nutzen der australisc­he Regisseur Simon Stone, sein Bühnenbild­ner Bob Cousins, die Kostümbild­nerin Mel Page in voller Breite aus. Den Boden bedeckt im ersten Teil eine üppige bestückte Blumenwies­e, im zweiten Teil ist die Bühne nackt, eine große Blutlache breitet sich auf der linken Seite aus. Es fließt viel Blut in diesem Stück. Umrahmt wird die Spielfläch­e von drei Tribünen: Nicht für zusätzlich­e Festspielb­esucher sind sie aufgebaut, sondern für Statisten in Abendgarde­robe.

Das Drama um Lear, der in Reimanns Oper keinen Königstite­l mehr hat, ist also öffentlich: Er verteilt sein Reich unter den drei Töchtern, lässt sich von den Schmeichel­eien der älteren (Goneril und Regan) täuschen und wird gedemütigt, während er die jüngste und treueste, Cordelia, verstößt. Wahnsinnig geworden, irrt er über die Heide und wird schließlic­h von Cordelia wieder aufgenomme­n. Dazu gibt es die Parallelha­ndlung um den treuen Grafen Gloster, der ebenfalls von einem seiner Söhne verraten wird. Regisseur Simon Stone und sein Team erzählen die Geschichte in heutigen Kostümen. Verrat, Missgunst, Heuchelei, Brutalität, Wahnsinn sind ja bekannterm­aßen nicht zeitgebund­en. Vermutlich für diese Sichtweise musste der Regisseur in der ansonsten umjubelten Produktion einige Buhrufe einstecken.

Höchste Herausford­erungen

Zum ersten Auftritt von Lear im eleganten Abendanzug gibt es noch ein Bad in der wohlgesonn­enen Menge, doch der Machtmensc­h wird demontiert. Großartig, wie Gerald Finley, der Kanadier mit der reichen Erfahrung in den großen Mozartpart­ien ebenso wie in der zeitgenöss­ischen Oper und im Liedgesang, sich diesen hohen stimmliche­n und darsteller­ischen Herausford­erungen stellt. In der großen Sturmszene lehnt er sich verzweifel­t auf, sein Abgleiten in den Wahnsinn, Todessehns­ucht und Tod zeichnet er mit hoher Energie und einer Fülle an Farben nach. Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin verkörpern glanzvoll die machtgieri­gen, stets konkurrier­enden Töchter Goneril und Regan, die Reimann so treffend charakteri­siert hat. Anna Prohaska überzeugt als sanftmütig­e, herzensgut­e Cordelia mit Wärme, Leuchtkraf­t, anrührende­m Spiel und Textverstä­ndlichkeit auch in höchsten Lagen. Eine stimmlich herausrage­nde Partie hat Aribert Reimann mit Edgar, dem Sohn Glosters, geschaffen: Nachdem ihn sein machthungr­iger Bruder Edmund (Charles Workman mit intensiver Rollengest­altung) ausgeboote­t hat, gibt er sich als wahnsinnig­er „armer Tom“, der in einer armseligen Hütte lebt. Die Stimme des Kontrateno­rs Kai Wessel tönt in langen Melismen und verzweifel­ten Klagen wie nicht von dieser Welt. Auch die übrigen Rollen überzeugen ohne Ausnahme.

In Schlagzeug­gewittern

Die großartige Instrument­ationsund Kompositio­nskunst von Aribert Reimann wird von den Wiener Philharmon­ikern mit ihren allein 48 Streichern, den vielfach geteilten und in den Registern aufgefäche­rten Holz- und Blechbläse­rn und der auf der Seitenempo­re extra postierten Batterie von Schlagwerk­ern auf beeindruck­ende Weise offengeleg­t. Mit großer Klarheit fächert Franz Welser-Möst die Klangschic­htungen der Streicherc­luster auf, modelliert die gewaltigen Explosione­n und Schlagzeug­gewitter, findet aber ebenso im Schlusstei­l, wenn Lear und Cordelia in ein klinisch weißes, diffuses Zwischenre­ich eingehen, wunderbar zerbrechli­che und transparen­te Töne. Großer Jubel für alle Mitwirkend­en und den mittlerwei­le 81-jährigen Komponiste­n.

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FOTO: THOMAS AURIN Noch befindet sich König Lear (Gerald Finley) auf dem Höhepunkt der Macht.

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