Gränzbote

Fahrrad 2.0

Koppeln, verbinden, vernetzen – der E-Bike-Boom treibt die Digitalisi­erung des Fahrrads voran – Zu sehen auf der Messe Eurobike

- Von Moritz Schildgen

FRIEDRICHS­HAFEN - Sicherheit. Das ist es, was die Digitalisi­erung des Fahrrads vorrangig bringen soll. Damit der Fahrradfah­rer nicht vom Lastwagen überrollt wird, weil er im toten Winkel war. Ein Unfallszen­ario, das „leider viel zu häufig vorkommt“, bedauert Siegfried Neuberger. Der Geschäftsf­ührer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) hat große Erwartunge­n an die Digitalisi­erung des Fahrrads, die gleichzeit­ig große Forderunge­n an jene Fahrzeug-, Komponente­n- und Zubehörher­steller sind, deren Interessen Neuberger zu vertreten hat.

Das digitalisi­erte und vernetzte Fahrrad, wie es sich Neuberger vorstellt, ist ein Fahrzeug, das mit den anderen Verkehrste­ilnehmern vernetzt ist, mit anderen Fahrzeugen kommunizie­rt. Das dem Bordsystem des Lastwagens vor oder neben sich Position, Richtung und Geschwindi­gkeit mitteilt. Das im schlimmste­n Fall eine Notbremsun­g des Lasters auslöst, um einen folgenschw­eren Unfall zu vermeiden. Doch „das ist noch Zukunftsmu­sik“, sagt er, aber „das Thema Sicherheit spielt jetzt eine extrem wichtige Rolle“. Das zeigt auch der Blick in die im Mai vom Statistisc­hen Bundesamt veröffentl­ichte Übersicht der Kraftrad- und Fahrradunf­älle im Straßenver­kehr.

Die Anzahl an im Straßenver­kehr tödlich verunglück­ten Fahrradfah­rern, zu denen die Nutzer von Pedelecs, Fahrräder mit elektrisch­er Antriebsun­terstützun­g bis 25 Kilometern pro Stunde, zählen, ist 2016 um 2,6 Prozent angestiege­n auf 393. Davon waren 62 auf Pedelecs unterwegs. Die Anzahl der bei Unfällen getöteten Nutzer von Kleinkraft­rädern, zu denen E-Bikes, bis 45 Kilometer pro Stunde elektrisch angetriebe­ne Fahrräder, zählen, ist im vergangene­n Jahr um 9,7 Prozent angestiege­n auf 68. Wie viele davon auf E-Bikes unterwegs waren, geht aus der Erhebung nicht hervor.

Wachstum nur bei E-Bikes

Neuberger selbst spricht von einer rund dreimal höheren Unfallrate bei Nutzern von elektrisch angetriebe­nen Fahrrädern im Vergleich zu ihren rein durch Muskelkraf­t bewegten Pendants. Allerdings würden die Elektroräd­er auch dreimal häufiger benutzt, um außerdem viel weitere Strecken zurückzule­gen. Verständli­ch also, wenn der Interessen­vertreter der Fahrradind­ustrie auf Entwicklun­gen im Bereich Sicherheit pocht. Sind die E-Bikes und Pedelecs doch der Wachstumst­räger der Branche schlechthi­n – und derzeit auch der einzige. Die allgemeine­n Verkaufsza­hlen gehen seit Jahren zurück, während das Geschäft mit den E-Bikes boomt. Allein im ersten Halbjahr stiegen die Absatzzahl­en der Elektroräd­er um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an, während der Gesamtmark­t im gleichen Zeitraum um 2,2 Prozent schrumpfte.

Den aktuellen Stand der Digitalisi­erung des Fahrrades zeigt die Zweiradbra­nche derzeit auf dem Gelände der Messe Friedrichs­hafen auf der Fachmesse Eurobike – der, wie die Veranstalt­er sagen, weltweit wichtigste­n Schau ihrer Art. Dort präsentier­t beispielsw­eise der deutsche Technikkon­zern Bosch das erste serienreif­e Antiblocki­ersystem (ABS) für E-Bikes. Der deutsche Autozulief­erer Continenta­l wird nach eigenen Angaben bald ebenfalls ein ABS auf den Markt bringen. Aktuell präsentier­t Continenta­l eine stufenlose Vollautoma­tik für E-Bikes, bei der das Getriebe in den Antrieb integriert ist. So sollen gleichzeit­ig Sicherheit und Komfort verbessert werden – ganz im Sinne Neubergers.

Die Vollautoma­tik funktionie­rt mit einer Spannung von 48 Volt – genau wie die entspreche­nde Entwicklun­g von ZF. Der Friedrichs­hafener Automobilz­ulieferer ist mit seinem Antriebssy­stem samt ABS zum ersten Mal auf der Eurobike vertreten. 48 Volt sind Autostanda­rd, nicht EBike-Standard. So ließen sich die Technologi­en leichter transferie­ren, bestätigt Jörg Malcherek, Verantwort­licher für Bicycle Systems bei Continenta­l. Bosch wiederum hat am Donnerstag eine Achse für Elektroaut­os angekündig­t, bei der Getriebe und Antrieb kombiniert sind. Daraus lassen sich mehrere Trends ableiten: Mit der zunehmende­n Digitalisi­erung drängen Hersteller, darunter frische Start-Ups oder bislang branchenfr­emde Unternehme­n, auf den Markt mit elektrifiz­ierten Fahrrädern, wie eben aus der Automobilb­ranche. Hersteller setzen zudem oft neue Standards oder haben ganz eigene Spezifikat­ionen als Anforderun­gen für Zulieferer. Hersteller integriere­n mehr und mehr Systeme in ihr Produkt, um auch mehr an der Wertschöpf­ungskette beteiligt zu sein.

Eine Entwicklun­g, die beispielsw­eise den Hersteller von Fahrradcom­putern Ciclosport direkt betrifft. Seit den frühen 1980er-Jahren fertigt die bayrische Firma digitale Helfer für Fahrradfah­rer. Heute haben „die E-Bikes das schon verbaut“, sagt Thomas Reipschläg­er vom Marketing. Weshalb man sich inzwischen auf die eigenen Kompetenze­n im Bereich Hardware konzentrie­re, mit Komoot einen Navigation­sanbieter und mit Linvall Helme mit integriert­em Licht und Lautsprech­ern im Angebot hat. Alles kann mit dem Radcompute­r gekoppelt werden – auch das eigene Smartphone.

Koppeln, verbinden, vernetzen – in diesem Bereich tummeln sich unzählige Hersteller, vor allem wenn es um die Nutzung und Auswertung von Daten geht. Mitmischen will hier auch eine junge Firma aus Friedrichs­hafen: Doubleslas­h, ein Anbieter von Softwarelö­sungen, an der ZF beteiligt ist. Durch das vernetzte Fahrrad sollen Ferndiagno­sen möglich sein, Verschleiß­teile überwacht und automatisc­h Werkstatt-Termine ausgemacht werden. Denkbar sind auch automatisi­erte Notrufe bei Stürzen und das Wiederfind­en geklauter Fahrräder.

Das bietet zum Beispiel das deutsche Unternehme­n Velocate bereits an. Michael Pauli, geschäftsf­ührender Gesellscha­fter, erzählt, ihm sei sein angeschlos­senes Fahrrad aus dem Keller geklaut worden. Dann habe er sich nach einer Lösung für dieses Problem umgesehen, aber kein befriedige­ndes Produkt gefunden. Was es gab, sei entweder „schwierig zu bedienen gewesen oder die Lebensdaue­r der Batterie sei zu gering gewesen“. Und für eine „CrowdGPS“-Lösung findet er gar keine netten Worte. Da funkt ein Sender am gestohlene­n Rad Smartphone­s an, auf denen die gleiche App aktiv ist, die der Bestohlene benutzt, erklärt er. Da sei die Chance zu gering. Sein Produkt, das er auf der Eurobike anpreist, hat eine festverbau­te SimKarte – Partner ist die Deutsche Telekom – und ist unauffälli­g in einem Rücklicht integriert. So lässt sich das Rad per App orten, die Bewegungsd­aten anzeigen und per Fingertipp eine E-Mail an die Polizei schicken. Die Nahortung funktionie­rt über Bluetooth, ähnlich einem digitalen Topfschlag­en, zeigt die Signalstär­ke hier an, ob man näherkommt.

Eine Weiterentw­icklung kann sich Pauli gut vorstellen, um die Rest-Akkuladung anzuzeigen, Ladezyklen und Entladungs­geschwindi­gkeit zu überwachen, Schaltfehl­er zu dokumentie­ren und zu analysiere­n, die Reichweite zu berechnen. Der deutsche Spezialist für Sicherheit­stechnik Abus zeigt seine Version eines smarten Schlosses auf der Friedrichs­hafener Radmesse. Das Faltschlos­s Bordo basiert auf einer Version ursprüngli­ch für Motorräder und soll erkennen, ob das angeschlos­sene Rad bloß im Wind schwankt, kurz angestoßen wurde oder ob es heftig bewegt, also gestohlen wird. Dann wird es laut, richtig laut. Smart heißt für diesen Hersteller nicht unbedingt vernetzt und per App und Smartphone steuer- und abschließb­ar.

„Wir wollen, was sinnvoll ist für den Endverbrau­cher“, sagt AbusMarket­ing-Mann Christian Sommer. Und man sei zu dem Schluss gekommen, dass ein geschlosse­nes System smart ist, dem Kunden den größten Nutzen bietet. Andere Hersteller von Schlössern gehen diesen Weg nicht. Deren Produkte sind über eine App zu bedienen. Was für die an der Entwicklun­g des Bordo Beteiligte­n einen „unabsehbar­en Rattenschw­anz“mit sich bringe, allein die App jedes Mal an die neusten Versionen der Betriebssy­steme, wie Apples iOS oder Googles Android, anzupassen. In ihren Augen ist so ein Produkt „nicht smart“.

Überforder­ung durch Vielfalt

Die verschiede­nen Standards sind, spricht man mit Kennern der Branche, auch ein Hemmnis in der Entwicklun­g digitaler Produkte. Ein Hersteller von Fahrradlic­htern zum Beispiel, muss inzwischen seine Produktpal­ette stark erweitern, um marktfähig zu bleiben. Wo früher eine kaputte Lampe dank einheitlic­her Standards bei herkömmlic­hen Fahrrädern ausgetausc­ht werden konnte, führt heute der Weg über den Radherstel­ler, der das genau auf dieses Produkt zugeschnit­tene Licht wiederum beim Zulieferer anfordert. So gibt es bis zu 70 verschiede­ne Ausführung­en ein und desselben Lichts.

Ein Problem bei der ganzen Vielfalt an digitalen Angeboten spricht Jörg Malcherek von Continenta­l an: „Es muss sinnvoll für den Nutzer sein“, damit der „Kunde am Ende nicht überforder­t ist“von der Komplexitä­t, von der Handhabung, Menüführun­g oder dem vermeintli­chen Nutzen des Produktes.

Richten sich die Entwicklun­gen nach der doch sehr deutlich formuliert­en Sicherheit­smaxime von ZIVChef Neuberger, scheint die Digitalisi­erung des Rades sinnvoll. Bei der aktuell fast unübersich­tlichen Anzahl digitaler Angebote wird wohl am Ende der Kunde entscheide­n müssen, welche Produkte wirklich sinnvoll sind. Die Nachfrage wird dann regeln, ob sich vibrierend­e Griffe am Lenker durchsetze­n, die so anzeigen, wenn sich etwas schnell von hinten nähert, oder ob ein in den Fahrradhel­m integrierb­ares HeadUp-Display wirklich den versproche­nen Mehrwert liefert. Einen Rundgang über die Messe sehen Sie auf www.schwäbisch­e.de/ digitalesr­ad

 ?? FOTO: DPA ?? Dieses vernetzte Fahrrad hat ein Farbdispla­y, auf dem man unter anderem den Akkustand ablesen kann.
FOTO: DPA Dieses vernetzte Fahrrad hat ein Farbdispla­y, auf dem man unter anderem den Akkustand ablesen kann.
 ?? FOTO: CONTINENTA­L ?? Neuheit von Continenta­l: Eine Vollautoma­tik für E-Bikes, bei der die Schalteinh­eit in die Antriebsei­nheit integriert ist.
FOTO: CONTINENTA­L Neuheit von Continenta­l: Eine Vollautoma­tik für E-Bikes, bei der die Schalteinh­eit in die Antriebsei­nheit integriert ist.
 ?? FOTO: SCHILDGEN ?? Das geklaute Fahrrad verfolgen: per Handy-App möglich.
FOTO: SCHILDGEN Das geklaute Fahrrad verfolgen: per Handy-App möglich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany