Gränzbote

„Dem Teufel der Raserei verfallen“

Heute vor 60 Jahren wurde in der noch jungen Bundesrepu­blik Tempo 50 innerorts eingeführt

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Die Post an den Bundesverk­ehrsminist­er ist starker Tobak. Mütter klagen den Tod ihrer Kinder an, die beim Spielen von Autos überfahren wurden. Andere Briefeschr­eiber kritisiere­n den „Massenmord auf Deutschlan­ds Straßen“. Mitte der 50er-Jahre herrscht in der Bundesrepu­blik freie Fahrt für freie Bürger. Es gibt keine Tempolimit­s. Heute vor 60 Jahren schob ein Bundesgese­tz einen ersten Riegel vor. In Ortschafte­n gilt seitdem Tempo 50.

Die Heftigkeit der damaligen Debatte stellt die heutigen Diskussion­en um Tempo 30 in Innenstädt­en oder Tempolimit­s auf Landstraße­n und Autobahnen in den Schatten. Doch vom Tisch ist das Thema keineswegs.

In Westdeutsc­hland nimmt das Wirtschaft­swunder in den 50er-Jahren Fahrt auf. Das Auto ist ein Statussymb­ol. Ende 1952 hebt der Bundestag ein „Nazi-Gesetz“von 1939 auf. Es beschränkt­e das Tempo in Ortschafte­n auf 40 Stundenkil­ometer, sonst überall auf 80. Das wurde nun vor allem als Benzinspar­zwang im Krieg interpreti­ert. Die DDR hielt dagegen ohne Unterbrech­ung an Geschwindi­gkeitsgren­zen fest.

Für die Bundesrepu­blik lesen sich heute die Jahre ohne Limit gruselig. Zwischen 1950 und 1953 verdoppelt­e sich die Zahl der Fahrzeuge auf fast fünf Millionen – und die Zahl der Verkehrsto­ten stieg von rund 7000 auf mehr als 12 000, darunter viele Kinder. Das war ein Spitzenwer­t in Europa. Deutsche Autolobbyi­sten kommentier­ten die Zahl damals mit dem Satz: „Der Fortschrit­t der Zivilisati­on kostet auch Opfer.“Auch im Bundestag ging beim Thema Tempolimit ein Riss durch die Parteien. „Die meisten Abgeordnet­en sind auch dem Teufel der Raserei verfallen“, kommentier­te der Vorsitzend­e des Verkehrsau­sschusses, Oskar Rümmele (CDU). Er war einer der hartnäckig­en Verfechter von Limits und wollte auch Grenzen für Landstraße­n und Autobahnen.

Schneller Erfolg

Auch wenn Stuttgart bereits nach zwei Monaten Erfahrung mit Tempo 50 feststellt­e, dass nur noch halb so viele Menschen auf seinen Straßen umkamen – das Sterben außerhalb von Stadt und Dorf ging weiter.

1970 gab es in Westdeutsc­hland rund 17 Millionen Fahrzeuge und fast 20 000 Verkehrsto­te. Erst 1972 kam als Großversuc­h das 100er-Limit für Landstraße­n, zwei Jahre später die Richtgesch­windigkeit 130 auf Autobahnen. Nicht allein die Vernunft, auch die Ölkrise spielte dabei eine Rolle.

2016 liest sich die Verkehrsst­atistik für Deutschlan­d ganz anders. Auf den Straßen rollen nun 62 Millionen Fahrzeuge, aber es gibt 3206 Verkehrsto­te. Die Lust auf weitere Limits in Innenstädt­en ist jedoch gebremst. Nach einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur ist mehr als die Hälfte der rund 2000 Befragten (52 Prozent) gegen die generelle Einführung von Tempo 30 in Innenstädt­en – jenseits ausgewiese­ner Hauptstraß­en. Nur 41 Prozent können sich mit dieser Idee anfreunden.

„Es ist sehr wichtig, ob Kraftfahre­r bereit sind, Tempo 30 innerorts als Regel zu akzeptiere­n“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallfors­chung der Versichere­r. „Und das sind sie offensicht­lich nicht.“Tempo 30 bedeute deshalb einen gigantisch­en Kontrollau­fwand. „Oder es bleibt ein Papiertige­r.“Möglicherw­eise gebe es weniger Unfälle bei weniger Tempo, ergänzt er. „Aber nur elf Prozent der schweren Unfälle mit Radfahrern passieren bei Tempo 40 und mehr.“Beim Löwenantei­l der Fahrradunf­älle machten Kraftfahre­r Fehler bei Abbiegen, Parken, Türöffnen oder Rückwärtsf­ahren. Potenzial für weniger schwere Unfälle liege mit Tempo 30 bei den Fußgängern – rund 30 Prozent.

Wie vor 60 Jahren gibt es andere Meinungen. „Beim Tempolimit ließe sich noch eine Menge machen“, sagt Christian Kellner, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Verkehrssi­cherheitsr­ats (DVR). „Innerorts sterben vor allem Fußgänger und Radfahrer.“In Zeiten, in denen Autos immer sicherer werden, sieht er die Kommunen in der Pflicht, die Schwächere­n besonders zu schützen. Kellner kann sich gut vorstellen, Tempo 30 innerorts als Regel festzulege­n und nur Haupt- und Ausfallstr­aßen für höhere Geschwindi­gkeiten auszuweise­n. Ein Gesetz sei auch heute Sache des Bundes.

Modellvers­uch geplant

Was fehlt, seien Belege für die Wirksamkei­t der Maßnahme, merkt Kellner an. Ab 2018 wolle Niedersach­sen deshalb in sechs Kommunen einen Modellvers­uch starten. Mit der Frage: Was bringt Tempo 30 mit Blick auf Verkehrssi­cherheit, Schadstoff­e und Lärm. Drei Jahre lang. „Wir benötigen belastbare Daten, damit nicht weiter spekuliert wird“, sagt Kellner. „Dann können wir sachgerech­t entscheide­n und müssen nicht vor irgendeine­r Lobby einknicken.“

60 Prozent aller Verkehrsto­ten sterben heutzutage aber auf Landstraße­n, im Vergleich zu 30 Prozent in Orten und 10 Prozent auf Autobahnen. „Sogar Landkreise machen sinnvolle Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen manchmal nicht mit“, sagt Unfallfors­cher Brockmann. „Sie setzen mehr auf die schnelle Verbindung von A nach B als auf Sicherheit. Das ist falsch.“Der DVR legt nach. „Wenn Landstraße­n nur sechs Meter breit oder schmaler sind, muss automatisc­h Tempo 80 gelten“, fordert Experte Kellner. Auch bei Schutzplan­ken müsse mehr passieren. „Wenn man mal einen Fehler macht, darf man nicht so grauenhaft bestraft werden.“

Auf Autobahnen gibt es laut Kellner auf Strecken mit Limit ein Viertel weniger Getötete. „Das spielt also eine Rolle.“Unfallfors­cher Brockmann reichen die Belege nicht. „Wir bräuchten ein Modellproj­ekt. Das grüne Baden-Württember­g wollte eines machen, aber der Bund hat das untersagt“, berichtet er. Und Appelle an die Vernunft, über moderne Anzeigenta­feln? „Beeinfluss­ungsanlage­n bringen nur etwas, wenn die Anlage auch eine Radarkontr­olle hat“, sagt Brockmann. „Hat sie aber nicht.“Und zur heutigen Mentalität der Autofahrer ergänzt er. „Das wird also allenfalls als freundlich­er Hinweis betrachtet.“

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FOTO: DPA Zeitenwend­e: Mit an der Windschutz­scheibe installier­ten Kameras sind zwei Polizisten im Oktober 1958 den Temposünde­rn auf der Spur.

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