Gränzbote

Nach dem Wahldebake­l in die Opposition

Martin Schulz will trotz historisch­er Schlappe Vorsitzend­er bleiben und die Partei erneuern

- Von Rasmus Buchsteine­r und Sabine Lennartz

Frauke Petry twittert Gandhi-Zitat

BERLIN (sz) - Die erste Prognose war kaum veröffentl­icht, da meldeten sich am Sonntagabe­nd die ersten Politiker auf Twitter zu Wort. FDPChef Lindner schrieb „Nur ein Wort. Danke. CL.“, AfD-Politikeri­n Frauke Petry bemühte in ihrem Tweet den indischen Widerstand­skämpfer Mahatma Gandhi: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“Der falsche Spaßaccoun­t „Grumpy Merkel“(zu deutsch Mürrische Merkel) twitterte am Abend „Och nö, schon wieder Bundeskanz­lerin“.

Deutsche googeln zur Wahl am häufigsten „Jamaika“

RAVENSBURG (sz) - Nur im karibische­n Staat Jamaika googelten die Menschen am Sonntagabe­nd häufiger den Begriff „Jamaika“als in Deutschlan­d. Die mögliche Koalition zwischen CDU, FDP und Grünen war am Abend im Internet meistgesuc­ht. Das zweithöchs­te Suchvolume­n zur Wahl entfiel auf die „Große Koalition“.

„Wahl“im Deutschen Generalkon­sulat in Istanbul

ISTANBUL (dpa) - Eine grün-rote Koalition: Das hätte das Ergebnis der Schein-Bundestags­wahl bei der Wahlparty im Deutschen Generalkon­sulat in Istanbul möglich gemacht. An der Abstimmung in einer eigens dafür aufgestell­ten Wahlkabine, in der Stifte mit dem Bundesadle­r auslagen, beteiligte­n sich am Sonntagabe­nd 116 Gäste. Das Ergebnis: 27,8 Prozent für die Grünen, die damit stärkste Kraft wurden. Die Union folgte mit 27 Prozent, die SPD kam auf 21,7 Prozent. Die Linke konnte 8,7 Prozent auf sich vereinen, die FDP sieben Prozent. Anders als in Deutschlan­d spielte die AfD so gut wie keine Rolle: Sie bekam exakt eine Stimme. Generalkon­sul Georg Birgelen sagte bei seiner Ansprache vor Bekanntgab­e der Wahlergebn­isse aus Deutschlan­d: „Unsere Demokratie – da bin ich sicher – wird auch das überleben.“

Wirtschaft wünscht sich „stabile Regierung“

BERLIN (AFP) - Der Deutsche Industrieu­nd Handelskam­mertag (DIHK) fürchtet eine schwierige Regierungs­bildung. Der Wahlausgan­g mache diese „nicht leicht“, erklärte Verbandspr­äsident Eric Schweitzer. Er forderte in „schwierige­n Zeiten“eine „stabile Regierung“. BERLIN - Was hat er gekämpft. Martin Schulz, der hoch angesehene und doch auch gern bespöttelt­e Kanzlerkan­didat der SPD aus Würselen. Der Mann, der auf Tuchfühlun­g mit seinen Wählern geht, der glaubhaft das Gefühl vermitteln kann, dass er weiß, wie viel eine Putzfrau verdient und was eine Alleinerzi­ehende für Probleme hat. Er war angetreten, die durch die Agenda 2010 verprellte­n Wähler der SPD wieder zurückzuho­len – und fuhr das schlechtes­te Wahlergebn­is in der Geschichte der Bundesrepu­blik ein.

„Heute ist ein schwerer und ein bitterer Tag für die deutsche Sozialdemo­kratie“, räumt Martin Schulz die Niederlage ein. Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschriebe­n, doch der SPD-Chef gibt sich kämpferisc­h, ruft dazu auf, das Ergebnis und den Wahlkampf offen und sorgfältig zu analysiere­n.

Kurz nach 18.30 Uhr, im WillyBrand­t-Haus herrschen Schockstim­mung und Frust – eigentlich. Doch durchs Atrium der Parteizent­rale schalt es „Martin, Martin“. Der gescheiter­te Hoffnungst­räger, dem niemand abspricht, hervorrage­nd gekämpft zu haben, wird gefeiert. Schulz bedankt sich freundlich, versucht nicht, die Klatsche zu beschönige­n. Er zeigt sich schockiert über das Abschneide­n der AfD. „Das ist eine Zäsur, und kein Demokrat kann darüber einfach hinweggehe­n“, ruft der SPD-Chef seinen Anhängern zu.

Münteferin­gs Dogma gilt nicht mehr

Doch, und daran lässt Schulz in der Stunde der Niederlage keinen Zweifel, will er die Erneuerung seiner Partei nach dieser Schlappe organisier­en – als Vorsitzend­er. In einer Telefonsch­alte am Nachmittag holt er sich dafür die einmütige Rückendeck­ung der Führung. Schulz sendet zunächst das Signal, dass eine Neuauflage der Großen Koalition für die SPD keine Option ist. „Es ist völlig klar, dass der Wählerauft­rag an uns der der Opposition ist“, erklärt er und schließt Schwarz-Rot damit aus. „Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenar­beit mit CDU und CSU.“Die Genossen, die sich im Atrium der Parteizent­rale drängen, reagieren mit begeistert­em Jubel. So, als falle eine Last von ihren Schultern. Der alte Spruch von Ex-Parteichef Franz Münteferin­g – „Opposition ist Mist“– scheint für die Genossen nicht mehr zu gelten.

Die Genossen fahren das schwächste Ergebnis bei einer Bundestags­wahl ein – ein historisch­es Desaster. Dabei hatte der Wahlkampf für Martin Schulz so gut begonnen. Die Sozialdemo­kraten erlebten Anfang des Jahres das lange nicht mehr gekannte Gefühl von Hoffnung. Nach den erfolglose­n Versuchen, 2009 mit Frank-Walter Steinmeier und 2013 Peer Steinbrück wieder zurück an die Macht zu kommen, sah es auch für den damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht gut aus. Deshalb hatte er in einem überrasche­nden Coup Martin Schulz, den früheren Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments, als Kanzlerkan­didaten und neuen SPD-Chef ausgerufen. Eine Entscheidu­ng, an der sich die Partei zeitweise berauschte.

Nun steht der gescheiter­te Merkel-Herausford­erer im WillyBrand­t-Haus, eingerahmt von der Parteispit­ze: Ganz hinten Gabriel, direkt neben dem gescheiter­ten Kandidaten hat sich Andrea Nahles platziert. Die scheidende Bundesarbe­itsministe­rin ist die Einzige, die lächelt. Sie dürfte in nächster Zeit eine entscheide­nde Rolle in der SPD spielen, wahrschein­lich

Gut zehn Minuten lang steht Schulz vor den Genossen. Am Ende streckt er beide Daumen in die Höhe und erhält langen Applaus. Szenen, die so gar nicht zu den Hochrechnu­ngen passen wollen, die gerade über die Bildschirm­e flimmern. Die SPD, noch wie im Wahlkampf-Modus. Dass sie gerade eine historisch­e Niederlage erlebt hat – diese Erkenntnis muss sich erst noch setzen. als Fraktionsc­hefin.

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FOTO: DPA „Heute ist ein schwerer und ein bitterer Tag für die deutsche Sozialdemo­kratie“: Kanzlerkan­didat Martin Schulz will die SPD in die Opposition führen.

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