Alles nur geträumt?
Marion Poschmanns Roman „Die Kieferninseln“
Marion Poschmanns Roman zeichnen zwei Eigenschaften aus, die man in der deutschen Literatur nicht oft, und schon gar nicht die Kombination, findet: Tiefe und Humor. Die 47-jährige Autorin, die eigentlich in der Lyrik zu Hause ist, schickt in ihrem zweiten Roman einen Wissenschaftler nach Japan. Und ohne dass Gilbert Silvester, so sein Name, weiß, was er dort eigentlich soll, entdeckt er stellvertretend für uns eine ihm völlig fremde Welt – und, auch das nicht alltäglich in der neueren Literatur, findet einen Weg aus seiner Lebenskrise.
Gilbert Silvester, die Hauptperson, ist kein Sympathieträger. Seine Karriere als Wissenschaftler ist ins Stocken geraten. Die aktuelle Studie des Privatdozenten über Bedeutung und Funktion von Bartdarstellungen im Film unter Berücksichtigung der Gendertheorie und der religiösen Ikonografie wird „gesponsert von der nordrhein-westfälischen Filmindustrie sowie zu kleineren Teilen von einer feministischen Organisation in Düsseldorf und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln“. Wen wundert da, dass er völlig den Boden unter den Füßen verliert, als seine Frau Mathilda ihn betrügt. Er flüchtet, vor seiner untreuen Frau, seinem eigenen mittelmäßigen Dasein. Es beginnt eine Reise ins Ungewisse, und das Ungewisse kann man hier wörtlich nehmen. Denn der eigentlich von wissenschaftlichem Dünkel durchdrungene Gilbert verlässt die reale Welt schon dadurch, dass er als Beweis für die Untreue seiner Frau einzig einen Traum aufführt.
Ein Traum treibt ihn also zum Flughafen, bringt ihn dazu, in das nächstbeste Flugzeug zu steigen, das zehn Stunden später in Tokyo landet. Tee, Nebelschwaden, Schwertkämpfer: Gilbert traumwandelt fortan durch Japan. Und bekommt einen Kameraden an die Seite gestellt, von dem man bis zuletzt nicht recht weiß, ob er nur eine Fantasiegestalt ist oder tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut. Dieser junge Mann, Yosa Tamagotchi (der Name bezieht sich die kleinen Spielzeuge, die kaputtgingen, wenn ihnen der Besitzer keine Aufmerksamkeit zukommen ließ), fühlt sich einer Prüfung an der Universität nicht gewachsen. Um den Eltern die Schmach zu ersparen, will er in der Tokyoer U-Bahn Selbstmord begehen.
Humorvoller Blick auf Japan
Ein unwürdiger Ort für ein so wichtiges Vorhaben, findet Gilbert. Das ungleiche Paar macht sich auf die Suche. Der verunsicherte Japaner und der westliche Besserwisser. Der eine nach einem würdigen Ort zum Sterben, der andere nach – ja, was eigentlich? Er fährt auf den Spuren des großen Dichters Basho nach Matsushima, einem der heiligen Orte Japans, an dem man den besten Blick auf die titelgebenden Kieferninseln genießt.
Bei diesem Buch muss man den Willen zum Abheben mitbringen. Denn Marion Poschmanns Geschichte schwebt immer zehn Zentimeter über dem Boden. Auch wenn sie den Leser mit ihren Beobachtungen japanischer, für uns skurrile Verhaltensweisen, auf lustige Weise unterhält – im nächsten Moment bricht das Unwirkliche wieder über die Geschichte herein. Und am Ende weiß man tatsächlich nicht, ob vielleicht alles nur ein langer Traum war.
Marion Poschmann hat mehrere Monate in Kyoto gelebt. Die Erfahrungen dort hat sie bereits 2016 in ihrem Lyrikband „Geliehene Landschaften“verarbeitet. Und nun in dem Roman „Die Kieferninseln“. Auch wenn sie den Deutschen Buchpreis in diesem Jahr nicht gewonnen hat, eine würdige Finalistin war Marion Poschmann auf jeden Fall. Marion Poschmann: Die Kieferninseln, Roman, Suhrkamp 2017, 168 Seiten, 20 Euro.