Der Tag, an dem Gudrun Ensslin starb
RAF-Terroristin nahm sich vor 40 Jahren in Stammheim das Leben – Spuren in Tuttlingen
TUTTLINGEN (sz) - Sie wollte die Welt durch Terror und Gewalt verändern, die schwäbische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin. Und so wurde sie Gründungs- und Führungsmitglied der Rote Armee Fraktion (RAF), die seit Ende der 1960er-Jahre Angst und Schrecken in der Bundesrepublik verbreitete. Bankeinbrüche, Entführungen und Bombenanschläge gingen damals auf das Konto der RAF. Es kam zu Toten und Verletzten. Gudrun Ensslin wurde schließlich 1972 gefasst. Heute vor 40 Jahren, am 18. Oktober 1977, ist sie im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim gestorben. Sie hatte sich erhängt. Gastautor Matthias Hilbert beleuchtet ihre Lebensgeschichte.
Wie konnte es zu solch einem verhängnisvollen Lebenslauf nur kommen? Das fragen sich bis heute viele Menschen. Gerade auch in Tuttlingen. Denn hier hat die am 15. August 1940 in Bartholomä geborene Gudrun Ensslin zehn Jahre ihrer Kindheit und Jugend verbracht: Von 1948 bis 1958 war ihr Vater Pfarrer in der Stadtkirche, bevor die Familie nach Stuttgart umzog.
Bei Kameraden beliebt
In Tuttlingen hat Gudrun Ensslin die Grundschule und das Gymnasium besucht. Sie ist auf geradezu vorbildliche Weise christlich sozialisiert. Eine Vorzeigetochter. Wie selbstverständlich passt sie in ihrer Freizeit auf ihre jüngeren Geschwister auf. Voller Begeisterung engagiert sie sich in der Gemeinde ihres Vaters. Sie ist Gruppenführerin im Evangelischen Mädchenwerk. Zieht in den Schulferien mit ihrer Teeny-Gruppe wandernd und musizierend durchs Land. Leitet Bibelabende. Bei den Hauskonzerten der Ensslins spielt sie die Violine.
Die schulischen Leistungen leiden bei all den Aktivitäten nicht. Denn die Pfarrerstochter ist begabt und eine gute Schülerin. Sie zeigt ein vorbildliches soziales Verhalten. Ist beliebt bei ihren Kameradinnen und Kameraden. Nicht zuletzt bei den Jungen. Denn die Gudrun ist schon hübsch und sympathisch. Lehrerin will sie einmal werden.
Ab dem Sommersemester 1960 studiert sie in Tübingen. Anderthalb Jahr später lernt sie den GermanistikStudenten Bernward Vesper kennen, Sohn des Nazidichters Will Vesper. Sie verliebt sich in ihn. Bewundert seine intellektuellen Fähigkeiten. Dass er ihr nicht treu ist, schmerzt sie. Doch sie will nicht prüde sein. Die Sexualmoral hat sich eben geändert.
Im Herbst 1964 setzt das Paar in Berlin sein Studium fort. Immer mehr sind sie in der linken politischen Szene aktiv. Zunächst noch als Wahlhelfer für Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1965. Als es ein Jahr später zur großen Koalition kommt, bezweifeln sie, ob der erstrebte gesellschaftliche Wandel überhaupt durch etablierte Parteien erfolgen kann.
Im Juni 1967 wird auf einer Demonstration gegen den Schahbesuch der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Ensslin schließt sich einer politischen Aktionsgruppe an und nimmt an öffentlichen Protestaktionen teil. Dann taucht in der Gruppe ein junger Mann namens Andreas Baader auf. Ein großspuriger, anarchistischer Typ von charismatischer Ausstrahlung. Offen plädiert Baader für Gewaltaktionen statt harmloser Happenings. Seine radikalen Ansichten stoßen bei Ensslin auf offene Ohren. Denn auch sie will etwas „tun“und es nicht so machen wie ihre Eltern während der Nazizeit. Immer wieder hat sie ihnen vorgeworfen, damals durch Passivität versagt zu haben.
Und dann steckt sie gemeinsam mit ihrem neuen Freund Andreas Baader und zwei weiteren Komplizen in Frankfurt zwei Kaufhäuser in Brand. Als Protest gegen die kapitalistische Konsumgesellschaft und den von den USA geführten Krieg in Vietnam. Als sie später gefasst werden, führt sie vor Gericht aus: „Wir haben gelernt, dass Unrecht ist.“
Und sie „handelt“weiter! Als Baader und sie Ende 1969 ihre Reststrafe antreten sollen, gehen sie in den Untergrund. Gemeinsam mit der Journalistin Ulrike Meinhof organisieren sie den Aufbau der RAF. Bei der „Mai-Offensive“der RAF 1972 kommt es zu einer ganzen Serie von Sprengstoffanschlägen (unter anderem auch auf das Europahauptquartier der US-Armee Reden ohne Handeln in Heidelberg). Wenig später werden Baader und Ensslin sowie weitere RAF-Mitglieder inhaftiert.
1974 erfolgt die Verlegung in einen neu errichteten Sicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Stuttgart-Stammheim. Mehrmals versuchen Gesinnungsgenossen, ihre Freilassung zu erpressen, zuletzt im Herbst 1977 durch die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer. Doch die Bundesregierung bleibt hart. Ein palästinensisches Kommando versucht daraufhin durch Entführung einer Lufthansa-Boeing mit deutschen Urlaubern die Freilassung zu erzwingen. Als die entführte Maschine in Mogadischu gelandet ist, kann jedoch die deutsche GSG 9-Spezialeinheit die Geiseln befreien und die Entführer ausschalten. Daraufhin begehen Baader und Ensslin (sowie Jan-Carl Raspe) im Gefängnis kollektiven Selbstmord.
Gudrun Ensslin war in den letzten Jahren selbst für ihre Eltern nicht mehr „erreichbar“gewesen. Ihren Geschwistern hatte sie bereits 1972 mitgeteilt: „Meine wirklichen Geschwister sind Thomas Weissbecker und Georg von Rauch (RAF-Mitglieder; M.H.).“Mehr denn je sah sie Andreas Baader in einem glorifizierten Licht. In einem Kassiber bezeichnet sie ihn als „das kollektive unterbewusstsein, die moral der erniedrigten und beleidigten“. Ihre Transformation von einer christlich und sozial eingestellten Jugendlichen hin zur verblendeten, fanatischen Terroristin kann nur als tragisch bezeichnet werden. Ganz offensichtlich hatten sich außerfamiliäre Einflüsse gesellschaftlicher und ideologischer Art, aber auch freundschaftliche Bindungen, die bei ihr fast schon an Hörigkeit grenzten, als stärker erwiesen als innerfamiliäre Prägungen und elterliche Vorbilder.
Gudrun Ensslin hinterließ einen Sohn, Felix Ensslin, der 1967 geboren wurde. Sein Vater war Bernward Vesper, sein Patenonkel war Rudi Dutschke. Er wuchs bei Pflegeeltern auf. Der Regisseur und Dramaturg hat einen Lehrauftrag an der Kunstakademie Stuttgart.