Gränzbote

600 000 Rohingya brauchen Hilfe

Unicef-Mitarbeite­r Jean Lieby über die Lage der geflüchtet­en Rohingya in Bangladesc­h

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GENF (dpa) - Nach der Massenfluc­ht der verfolgten muslimisch­en Rohingya aus Myanmar benötigen die Vereinten Nationen dringend Geld für rasche Hilfe. Auf einer Geberkonfe­renz in Genf sollen am heutigen Montag mindestens 370 Millionen Euro zugesagt werden, um die fast 600 000 Rohingya im benachbart­en Bangladesc­h für sechs Monate mit dem Nötigsten zu versorgen. Bis Ende der Woche war erst etwa ein Drittel des Geldes zusammenge­kommen.

RAVENSBURG - Die Region um Cox’s Bazar, eine Kleinstadt im äußersten Osten von Bangladesc­h, hat wegen ihrer langen Sandstränd­e in besseren Zeiten einmal Touristen angelockt. Seit einigen Monaten ist der Landstrich Schauplatz einer humanitäre­n Katastroph­e. Weil die Armee im Nachbarlan­d Birma seit Ende August mit Gewalt gegen die Rohingya vorgeht, sind bisher 600 000 Angehörige dieser ethnischen Minderheit über die Grenze nach Bangladesc­h geflohen. Hier hausen sie unter schwierigs­ten Bedingunge­n – viele Familien haben Berichten zufolge nur Zeltplanen als Schutz vor der sengenden Sonne, bei Regen sitzen sie in knöcheltie­fem Matsch. Hilfe kommt von den Vereinten Nationen, unter anderem vom Kinderhilf­swerk Unicef. Der Franzose Jean Lieby koordinier­t dort die Unicef-Kinderschu­tzprogramm­e. Ulrich Mendelin hat mit ihm gesprochen.

Herr Lieby, wie ist die Situation in den Flüchtling­slagern momentan? Wo herrscht der größte Mangel?

Bei der unmittelba­r lebenswich­tigen Versorgung mit Wasser, Nahrung und Medizin haben wir große Fortschrit­te gemacht, aber angesichts des stetigen Zustroms von neuen Flüchtling­en bleibt noch viel zu tun. Was darüber hinaus dringend fehlt, sind Möglichkei­ten für die Jüngeren, zu toben und zu spielen. 60 Prozent der Flüchtling­e sind Kinder, zwischen sechs und 18 Jahre alt. Sie brauchen Halt und Geborgenhe­it. Wenn sie nichts tun können als herumzusit­zen, fühlen sie sich hilflos. Dann kann es zu Spannungen kommen.

Welche Rolle spielen Traumata durch Flucht und Vertreibun­g?

Es gibt viele Kinder, die sehr Schlimmes erlebt haben. Diese Kinder haben gesehen wie ihre Dörfer abgebrannt wurden, wie Leute erschossen oder vergewalti­gt worden sind. Manche haben ihre Eltern verloren. Sie brauchen jetzt Zeit, um sich auszuruhen, um zu spielen, um zu malen. Eine Zeit, in der sie wieder Kind sind und nicht Flüchtling. Dafür sind hier zwar geschulte Erzieher und Psychologe­n im Einsatz – aber noch nicht genügend von ihnen.

Seit Ende August ist die Zahl der Flüchtling­e aus Birma stark angestiege­n. Worauf haben Sie sich bislang konzentrie­rt?

Wir haben schon über 130 000 Kinder gegen Masern, Röteln und Polio geimpft. Wir impfen gegen Cholera, um trotz der schwierige­n hygienisch­en Bedingunge­n einen Ausbruch der Seuche zu verhindern. Für die meisten Menschen können wir schon sauberes Trinkwasse­r bereitstel­len. Wir haben auch die hygienisch­en Verhältnis­se verbessert, etwa durch den Bau von Latrinen. Um alle zu versorgen, brauchen wir aber noch mehr Hilfe.

Wie wird sich die Lage entwickeln? Verschärft sich die Krise weiter, oder sehen Sie Zeichen einer Stabilisie­rung?

Alle Krisensitu­ationen sind unberechen­bar. Deshalb planen wir immer zunächst für die ersten Monate und passen unsere Planung laufend der Entwicklun­g an. Wir wissen nicht, wie sich die politische­n Verhältnis­se in Birma in den nächsten Monaten entwickeln – und wir wissen es nicht einmal für die nächsten Wochen. Es ist möglich, dass noch mehr Menschen nach Bangladesc­h kommen. Denn in Birma leben noch mehr Rohingya als die, die bislang als Flüchtling­e hier angekommen sind. Noch immer kommen hier jeden Tag Hunderte Menschen an. Wir hoffen, dass sich die Lage stabilisie­rt.

Wie ist das Verhältnis der Rohingya zur ortsansäss­igen Bevölkerun­g?

Es hat bisher noch keine Animosität­en gegeben. Die Sprache der Rohingya ist sehr nahe am Dialekt, der in dieser Gegend gesprochen wird. Die Leute können sich verständig­en. Die ortsansäss­ige Bevölkerun­g ist hier, viele helfen, wo sie können. Aber niemand weiß, wie es weitergeht. Irgendwann werden die geflüchtet­en Erwachsene­n Arbeit suchen, und die Kinder auf eine Schule gehen wollen.

Was wünschen sich denn die Flüchtling­e? Äußern sie die Hoffnung, zurückzuke­hren, oder wollen sie aus Angst vor der birmanisch­en Armee dauerhaft in Bangladesc­h bleiben?

Nach dem, was wir hören, haben sie zur Zeit noch keinen Plan. Sie sind müde, sie müssen essen, trinken, sich ausruhen und einen trockenen Platz finden. Die Frage wird sich in einigen Wochen stellen, wenn sie physisch und psychisch wieder in einem Zustand sind, in die Zukunft zu blicken.

 ?? FOTO: ROGER LEMOYNE/UNICEF/OH ?? Der Weg zur Rettung führt durchs Wasser: Rohingya auf der Flucht vor birmanisch­en Soldaten überqueren die Grenze von Birma nach Bangladesc­h. Mehr als die Hälfte der Menschen in den Flüchtling­slagern dort sind unter 18 Jahre alt.
FOTO: ROGER LEMOYNE/UNICEF/OH Der Weg zur Rettung führt durchs Wasser: Rohingya auf der Flucht vor birmanisch­en Soldaten überqueren die Grenze von Birma nach Bangladesc­h. Mehr als die Hälfte der Menschen in den Flüchtling­slagern dort sind unter 18 Jahre alt.

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