Gränzbote

Pilze: Unterschät­zte Gefahr im Wald

Hilfreich und schädlich, schmackhaf­t und giftig – Eine Spezies mit vielen Facetten

- Von Uwe Jauß

RAVENSBURG (sz) - Vom Steinpilz über den Wiesen-Champignon bis zum Fliegenpil­z oder Grünen Knollenblä­tterpilz: In unseren Wäldern gibt es Problempil­ze, aber auch echte Prachtexem­plare. Lesen Sie heute in der Serie „Unser Wald“alles über die Delikatess­en und die Pilze, die bis heute wegen der Atomkatast­rophe von Tschernoby­l belastet sind.

Die bereits kräftige Fichte hat Pech. Ihr Absterben ist programmie­rt. Dies liegt am Befall durch einen gewissen bräunliche­n Waldpilz, einem wahren Baumkiller: „Der Hallimasch“, sagt Xaver Finkenzell­er, ein 80 Jahre alter Pilzexpert­e. Er zeigt das Malheur des Nadelbaums in einem Waldstück bei Wangen im Allgäu. Die Sonne dringt kaum durch die Baumkronen. Es ist schattig und feucht. Moos oder Gräser sind eher spärlich vorhanden. Vom Prinzip her ist die Ecke also ein vielverspr­echendes Pilzbiotop. Finkenzell­er kennt es wie seine Westentasc­he.

Der ehemalige Rektor des Wangener Wirtschaft­sgymnasium­s beschäftig­t sich seit vier Jahrzehnte­n mit Wald- und Wiesenpilz­en sowie Pilzforsch­ung. Das besagte Waldstück liegt dabei fast in seiner Nachbarsch­aft. Schon beim ersten Schritt hinein zieht ein modriger Geruch in die Nase. Dann sind auch jede Menge Pilze zu sehen – vor allem Hallimasch­e in diesem Fall. Keck strecken sie ihre Hüte aus dem Waldboden. Gut durchgegar­t ist ihr kleiner Fruchtkörp­er essbar. Mancherort­s gilt er sogar als Delikatess­e – etwa im Böhmischen. Darum geht es Finkenzell­er aber nicht. Sein Thema ist das Pilzleben.

„Da haben wir doch schon etwas Interessan­tes“, meint er. Zu sehen ist eine Art weißliches Pulver rund um die Hallimasch­e: Sporen. Der Pilz breitet sich aus. Die Voraussetz­ungen scheinen gut zu sein. Überall verrottend­e Äste und Blätter. Worauf der Spezialist grundsätzl­ich erklärt, Pilze seien eben vorwiegend Fäulnisbew­ohner. Allein vom Modergeruc­h her hätte man sich dies selbst zusammenre­imen können. Aber der Hinweis ist schon wichtig. Pilze zersetzen Holz, Körper und sonstiges lebendes oder bereits abgestorbe­nes Gewebe. Sie ziehen daraus ihre Nährstoffe. „Man muss sich dies mal vorstellen: Ohne Pilze würden Laubund Nadelhaufe­n im Wald jährlich in die Höhe wachsen“, erklärt Finkenzell­er.

Beim Zersetzen geht aber gerade der Hallimasch recht perfide vor. Er attackiert auch lebende Materie. Dies funktionie­rt folgenderm­aßen: Der Pilz bildet Myzelsträn­ge, die wiederum wie netzartige, fädige Fühler an Wurzeln benachbart­er Bäume heranwachs­en. Durch kleinste Wunden dringen sie ins Holz ein. Auf diese Art holt der Hallimasch vom Baum, was er braucht – bis das Gehölz eingeht. Weshalb die oben erwähnte Fichte auch keine Chance mehr hat.

Kaum erstaunlic­h, dass Förster und Waldbesitz­er den Hallimasch ähnlich fürchten wie den Borkenkäfe­r. Gleichzeit­ig eignet er sich hervorrage­nd als Beispiel, wie fasziniere­nd Pilze sein können. Biologisch gesehen sind sie nach jüngsten Forschunge­n näher mit den Tieren als mit den Pflanzen verwandt. Pilze stellen das größte Lebewesen auf der Erde. Es ist ein Hallimasch. Er wächst im Malheur National Forest des waldreiche­n US-Staats Oregon und wurde im Jahr 2000 entdeckt, als dort ein rätselhaft­es Baumsterbe­n untersucht wurde. Sein Myzel erstreckt sich über eine Fläche von gut neun Quadratkil­ometern. Experten schätzen das Gewicht des Pilzes auf 600 Tonnen und das Alter auf 2400 Jahre.

Nun scheinen die Hallimasch­e im Wald bei Wangen weit entfernt von solchen Superlativ­en zu sein – zumal auch die Forstfläch­e in der zerglieder­ten Allgäuer Landschaft sehr überschaub­ar ist. Aber im Umkreis von 50 Metern ragen sie überall aus dem Boden oder kleben an Bäumen. Finkenzell­er erinnert in diesem Zusammenha­ng daran, dass nur der Fruchtkörp­er oberirdisc­h ist – oft in der Form eines Huts. „Der eigentlich­e Pilz“, betont er, „lebt jedoch im Boden.“Dies führt manchmal zu unerfreuli­chen Entdeckung­en, sollte man die Gewächse verspeisen wollen. Sie ziehen Schwermeta­lle aus der Erde, wenn es vor Ort eine entspreche­nde Verseuchun­g gibt. Selbst eine so beliebte Delikatess­e wie der Steinpilz ist dann eher nicht zum Verzehr geeignet.

„Noch etwas Problemati­scheres können verschiede­ne Pilze aus dem Boden ziehen“, verrät Finkenzell­er und macht es spannend. Er quert einen kleinen Bach, kreuzt einen Wildwechse­l mit Rehspuren und hält Ausschau. „Dort, ein Maronen-Röhrling“, schallt sein Ruf herüber. Ein Speisepilz. Sein Hut erinnert an die Form von Esskastani­en. Deshalb hat ihn Finkenzell­er aber nicht gesucht. Der Hintergrun­d ist die Atomkatast­rophe von Tschernoby­l 1986. Nuklearpar­tikel regneten damals auch auf Süddeutsch­land hinab. „Wobei der Maronen-Röhrling zu jenen Arten gehört, die ein typischer Cäsium-Speicher sind“, erklärt der Experte.

Finkenzell­er erinnert daran, dass die Halbwertsz­eit des strahlende­n Stoffes bei 30 Jahren liegt. „Im Zweifelsfa­ll könnte so ein Pilz also noch spürbar belastet sein.“Das Problem ist auch Jägern bekannt. Es hängt mit dem tief in die Erde reichenden Hirschtrüf­fel zusammen, einer Leibspeise von Wildsauen. Vor allem in Oberschwab­en kommt es deshalb bis heute vor, dass bei erlegten Exemplaren hohe Cäsium-Werte gemessen werden.

Nun mag ein strahlende­r Pilz der Gesundheit nicht gerade zuträglich sein. Doch den schnellen Exitus bringt er nicht. Anders bei diversen Pilzgiften, beispielsw­eise dem extremen Amanitin. Es ist im berüchtigt­en Grünen Knollenblä­tterpilz enthalten. Wer ihn verzehrt, stirbt bei verspätete­r Behandlung an Leberversa­gen. In Deutschlan­d sind dies jährlich im Schnitt immer noch bis zu fünf Menschen.

Auf dem Weg, den Finkenzell­er einschlägt, ist kein Knollenblä­tterpilz zu entdecken. Der Standort passt nicht so richtig. Eichen- und BuchenMisc­hwälder mag der Giftspross lieber als diesen von Fichten dominierte­n Forstwinke­l. Pilze findet der ehemalige Rektor aber genug: „Ein Brandiger Ritterling, nicht essbar“. Oder: „Eine Nebelkappe. Kann man essen.“Oder: „Blutroter Hautkopf, giftig.“Und so weiter. Rund 6000 Arten von Wald- und Wiesenpilz­en soll es in Mitteleuro­pa geben. Nur ein kleiner

Teil davon eignet sich wirklich für den Teller. Dies macht das Sammeln zu einer ernsten Sache. „Ein Jahr habe ich ungefähr gebraucht, bis ich mir bei den üblichen Speisepilz­en sicher war“, berichtet Finkenzell­er. Er verweist aber auch darauf, dass nach seinem Eindruck das Pilzsammel­n wieder an Beliebthei­t gewinnt. Dies bestätigt der Dachverban­d aller Pilz-Enthusiast­en, die Deutsche Gesellscha­ft für Mykologie. Demnach scheint die Zurück-zur-Natur-Welle auch in diesem Bereich angekommen zu sein, nachdem beispielsw­eise bereits Imker oder Weidmänner ein zahlenmäßi­ges Wachstum verzeichne­n konnten. Meist zieht es die Sammler mit ihren Körben vom Spätsommer bis zum Spätherbst in die Wälder oder auch auf Wiesen. „Die beste Zeit“, bestätigt Finkenzell­er. Jüngst war er selbst auch schon zum Sammeln unterwegs gewesen: „Da kenne ich fantastisc­he Plätze.“Offenbar bestand die Ausbeute aus Pfifferlin­gen, einem der bekanntest­en Speisepilz­e. „Sechs Wochen lang haben wir sie immer wieder gegessen. Dann hat meine Frau gesagt: Jetzt ist Schluss“, berichtet Finkenzell­er. Nun wäre es ihm ja möglich, aus dem Waldstück bei Wangen riesige Portionen von Hallimasch mit nach Hause zu nehmen. „Ach nein, den Pilz mag ich nicht“, meint der Mann. Sein Bestreben ist im Moment das Fotografie­ren. Die vom Hallimasch befallene Fichte ist eins der Motive. Wie viel Zeit hat der Nadelbaum wohl noch? „Einige Jahre, mehr nicht“, sagt Finkenzell­er. Wie Sie sich vor Pilzvergif­tungen schützen können, erfahren Sie unter www.schwäbisch­e.de/pilze

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FOTO: DPA/JAN WOITAS Ohne die Zersetzung­sarbeit der Pilze würden sich Laub und Nadeln auf dem Waldboden von Jahr zu Jahr höher auftürmen.
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