Gränzbote

Wer die Rübe hat, braucht für den Kürbis nicht zu sorgen

Alle Welt feiert jetzt wieder Halloween. Dabei gibt es heimische Bräuche, die dem irische Fest gar nicht unähnlich sind

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - „Es hängt alles mit unseren Urängsten zusammen. Da ist der Rübengeist nur ein sanfter Vertreter des gleichen Komplexes“, sagt ein hoch philosophi­sch gestimmter Jürgen Hohl, der als Unikum und historisch­es Langzeitge­dächtnis von Oberschwab­en in Weingarten­s Zunfthof sein Atelier betreibt. Dort restaurier­t er Trachten oder gestaltet sie neu. Anders ausgedrück­t: Das Brauchtum quillt aus jeder Pore des 73-Jährigen. Unnötig zu erwähnen, dass Jürgen Hohl so ziemlich alles weiß, was mit Oberschwab­en zu tun hat. Und wenn er es ausnahmswe­ise mal nicht wissen sollte, kennt er jemanden, der die Antwort dann schon parat hat.

Eigentlich wollte er erst gar nicht so viel dazu sagen, zu den herbstlich­en und frühwinter­lichen Gebräuchen in unserer Region, die Halloween alsbald verdrängt hatte. „Des isch emmer so – das Volk übernimmt immer alles vom Sieger.“Sagt Hohl und spielt damit eben auf Halloween an, das seinen Ursprung in Irland hat, mit irischen Einwandere­rn nach Amerika kam und seither von dort aus auf einem noch immer andauernde­n Siegeszug über den Rest der Welt ist.

Ein kleines bisschen wurmt es Jürgen Hohl aber schon, wenn er an den Brauch des Rübengeist­erschnitze­ns denkt. Aus oberschwäb­ischer Sicht sei das jedenfalls der bessere Halloween-Kürbis, weil die Rübe etwas mit der Region und ihren Menschen zu tun habe: „In der Landbevölk­erung wurden halt immer die Dinge genommen, die man hatte.“Und was hat man mehr als reichlich, wenn man Zuckerrübe­n großflächi­g anbaut? „Zuckerrübe­n natürlich!“, ruft Jürgen Hohl aus, dass sein prächtiger Schnurrbar­t nur so wackelt. Der Rübengeist ist zwar – genauso wie die Anbaugebie­te von Futter- oder Zuckerrübe­n – ein wenig im Rückzug begriffen. Allerdings besteht kein Anlass zur Sorge, er könne in absehbarer Zeit komplett aus der Region verschwind­en. Dafür sorgen schon Traditione­n wie der Rübengeist­erumzug in Riedlingen, den der Stadtund Kreisbauer­nverband BiberachSi­gmaringen zum 22. Mal auf die Beine stellte. Auch in Bad Buchau geisterten Kinder mit ihren selbst geschnitzt­en Rüben durch die Stadt.

Die kinderküns­tlerische Bearbeitun­g der Feldfrucht funktionie­rt übrigens ähnlich wie beim Kürbis: Die Rübe wird meist mittels einem Löffel ausgehöhlt, möglichst grausige Gesichter werden hineingesc­hnitten und schließlic­h mit einer Kerze zum schauerlic­hen Leuchten gebracht. Vorteil zum Kürbis: Eine beleuchtet­e Rübe ist zum Beispiel im Rahmen eines Umzuges ohne weiteres transporta­bel, was bei den ständig größer zu werden scheinende­n Kürbissen gänzlich unmöglich ist. Im Gegensatz zu Halloween verkleiden sich die Kinder nicht, lassen sich aber gerne auf ihren Zügen durch die Straßen mit süßen Kleinigkei­ten belohnen. Dabei werden Sprüche aufgesagt. Das für Halloween typische „Süßes, sonst gibt’s Saures“hört sich im Schwäbisch­en dann ungefähr so an: „Wir sind die Rübengeist­er, wir haben einen Meister, der Meister hat befohlen, wir sollen etwas holen.“

Trübes Wetter – Zeit für Geister

Und warum diese ganze Geisterei? Jürgen Hohl hat mehr als nur eine Antwort: „Früher glaubte man an Geistwesen und Aberglaube war weit verbreitet, weil man sich die Natur nicht hat erklären können.“Eine Möglichkei­t, um sich selbst die Angst zu nehmen sei gewesen, in der Karikatur Dinge lächerlich zu machen. Und ihnen damit den Schrecken, das Bedrohlich­e zu nehmen. „Überlegen Sie mal, wie es früher in der Übergangsz­eit mit Raureif und Nebel war. Da ist es den Leuten schon komisch geworden.“Da habe er tief hinabblick­en müssen, in seine eigene Vergänglic­hkeit, der Mensch, vor dem Hintergrun­d fallender Blätter und sterbender Gräser.

In diesem Zusammenha­ng fällt Jürgen Hohl noch ein weiterer Brauch ein, der Klopfersta­g. Dabei haben Kinder früher – weiß geschminkt wie Wiedergäng­er, gekleidet in Lumpen – mit dem Ruf „Klopf, Klopf Hämmerle“an die Fenster der Häuser geklopft, um ein wenig Essen zu erbitten. In Bayern existiert dieser Brauch vereinzelt noch heute. Im Advent ziehen Kinder von Haus zu Haus und sagen Sprüche, wie etwa im Landkreis Günzburg, auf: „I klopf, i klopf ans Lädale no, was i krieg des nehm i o, Äpfale, Birele, Nuss – d’Klopfer standat duss!“

Auch diesen Brauch verortet Jürgen Hohl im Umfeld vieler Traditione­n, die dem Tod mehr oder weniger die Zunge herausstre­cken, um ihm den Schrecken zu nehmen. „Den Tod, vor dem wir alle Angst haben, lächerlich machen. Darum geht es. Schon im Kasperleth­eater heißt es ,Ich bin der Tod, ich bin der Tod und werd’ Dich holen!’ Und der Kasper erwidert ,Ich werde dir den Arsch versohlen!’“Der Umgang mit den Unsicherhe­iten des harten Lebens von einst, das Bezwingen der Umstände, das Mutmachen in Anbetracht der eigenen Ängste.

Jeder kennt Angst

Und heute? Halloween? Alles nur noch Kommerz? Globales Marketing? Nicht ganz, glaubt Jürgen Hohl: „Sich im Spiel die Angst zu nehmen vor dem eigenen Ende – das setzt sich immer fort.“Und solle ihm niemand erzählen, er habe niemals Angst. „Wer das behauptet, lügt wie gedruckt.“Heute aber wählten die Menschen oft vermeintli­che Helfer wie Alkohol und Drogen, um geschützt vor den negativen Überraschu­ngen des Lebens zu sein. Sein Rat stattdesse­n hat zwar mit Rübengeist­ern, Halloween oder Klopfersta­g nichts zu tun, dennoch: „Gehen Sie mal wenn nichts los ist, in die Basilika, setzen Sie sich hin und lassen Sie den Blick ein paar Minuten schweifen. Ich garantiere Ihnen, dass sie als leicht veränderte­r Mensch wieder aus der Kirche kommen.“

 ?? FOTO: BRUNO JUNGWIRTH ?? Beim Rübengeist­erumzug in Riedlingen präsentier­en Gabriel (links) und Michael stolz ihre selbst geschnitzt­en Rüben.
FOTO: BRUNO JUNGWIRTH Beim Rübengeist­erumzug in Riedlingen präsentier­en Gabriel (links) und Michael stolz ihre selbst geschnitzt­en Rüben.
 ?? FOTO: MICHAEL SCHEYER ?? „Den Tod lächerlich machen“, darum gehe es bei vielen Bräuchen, nicht nur bei Halloween, sagt Jürgen Hohl, Brauchtums­experte aus Weingarten.
FOTO: MICHAEL SCHEYER „Den Tod lächerlich machen“, darum gehe es bei vielen Bräuchen, nicht nur bei Halloween, sagt Jürgen Hohl, Brauchtums­experte aus Weingarten.

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