Gränzbote

Nach Europa!

Wie die Kunstszene der Ukraine auf Korruption und Krieg reagiert

- Von Jürgen Berger

KIEW - Wie die Künstler der Ukraine sich mit der Korruption im Lande und dem Krieg im Donbass beschäftig­en, konnte man beim GogolFest verfolgen. Es ist das größte Kunstfesti­val des Landes.

Der Maidan ist der Mittelpunk­t von Kiew und steht seit Dezember 2013 für die ukrainisch­e Revolution der Würde, mit der die Jugend des Landes eine engere Anbindung an Westeuropa forderte. Steigt man an diesem zentralen Platz in die Metro und nach sechs Stationen wieder aus, steht man unvermitte­lt vor dem voluminöse­n Dovzhenko Centre. Das neue Kulturzent­rum liegt am Rande der Innenstadt Kiews und ist ein Spielort für die freie Kulturszen­e des Landes. Hier lebt der Geist des Euromaidan weiter, wie die Revolution der Würde auch genannt wird. Hier im Dovzhenko Centre fand das größte Kunstfesti­val der Ukraine statt. Gastspiele aus ganz Europa und Produktion­en der freien ukrainisch­en Theatersze­ne wurden hier gezeigt.

Geld fehlt an allen Enden

Das Dovzhenko sieht heute wie eine Industrier­uine aus. Zu Sowjetzeit­en war es ein Zentrum für die Postproduk­tion der Filmindust­rie. Hier wurde geschnitte­n, vertont, synchronis­iert, kopiert. Im Moment verwandelt sich der Gebäudekom­plex in ein riesiges Haus, das allen Künsten Platz bieten soll, von der Fotografie über Konzerte und Theater bis hin zu improvisie­rten Popkonzert­en im Hinterhof. Geld allerdings gibt es keines. In der Ukraine, so der Tenor aller Gespräche, ist Kulturpoli­tik ein Fremdwort. Wer etwas auf die Beine stellen will, muss das zum größten Teil selbst finanziere­n. Was das konkret bedeutet, riecht man im Dovzhenko. Über allem liegt ein Hauch frischer Farbe. Viele der Spielstätt­en wurden gerade noch fertiggest­ellt oder werden in halbfertig­em Zustand bespielt.

In einem der Säle steht vorne auf der Bühne ein Konzertflü­gel, in einem anderen gibt es eine Fotografie­Ausstellun­g, einer der Seitenflüg­el gehört in diesen Tagen der StreetArt-Szene. Man betritt einen Dschungel bildnerisc­her Fantasien und Alpträume. Es gibt alles von kleinen Rauminstal­lationen bis hin zum Spruch eines Sprayers, der immer wieder an den Wänden auftaucht: „Dear GogolFest: Art isn’t Ark. Art is the Flood.“

Schutzraum für Theatermac­her

Der ironische Seitenhieb, Kunst sei keine Arche, sondern eine Flut, geht in Richtung Vlad Troitskyi. Der ist nicht nur Präsident des GogolFest, er leitet auch das über die Grenzen der Ukraine bekannte Dakh Theater. „Dakh“bedeutet „Dach“und signalisie­rt, dass das bekanntest­e freie Theater der Ukraine ein Schutzraum für andere Theatermac­her sein will. Dass Vlad Troitskyi dem aktuellen GogolFest dann auch noch das Moto „Ark“, also „Arche“, mit auf den Weg gab, war den jüngeren beim Festival vertretene­n Künstlern dann wohl doch zu viel der väterliche­n Fürsorge. Deshalb die Aufforderu­ng, Kunst sollte bitte nicht nur Überleben sichern, sondern gelegentli­ch auch missliebig­e Zustände wie eine Flut wegfegen.

Enttäuscht­e Hoffnungen

Der Spruch des Sprayers will ein Weckruf sein. Unterhält man sich mit den Künstlern und Organisato­ren erfährt man, wie unterschie­dlich die Menschen auf die existentie­llen Probleme der Ukraine reagieren. Die Korruption im Land wird von allen offensiv angesproch­en. Eine junge Frau aus dem Organisati­onsteam zum Beispiel war 17, als sie an der Maidan-Demonstrat­ion teilnahm. Damals, sagt sie, hätte jeder sprechen dürfen, heute würden nur noch die Politiker sprechen. Und: „Die Menschen in der Ukraine sind inzwischen stark in Richtung Europa orientiert, aber auch tief enttäuscht wegen der Korruption und weil sich nichts ändert.“

Befangen bei der Krimfrage

Geht es dagegen um die Annexion der Krim und die bewaffnete Auseinande­rsetzung zwischen dem ukrainisch­en Militär und den prorussisc­hen Separatist­en in der Ostukraine, ändert sich die Tonlage. Darüber spricht man nicht gerne und wenn doch, klingt es, als ginge es um einen todkranken Patienten.

Viele der Künstler würden gerne Angehörige oder Freunde auf der Krim besuchen. Sie machen es aber doch nicht, weil sie das wie Verrat empfinden würden und als akzeptiere man den Handstreic­h, mit dem Russland die Halbinsel annektiert­e. So jedenfalls formuliere­n das die Dakh Daughters, die mit dabei waren, als vor vier Jahren Geschichte geschriebe­n wurde. Die Schauspiel­erinnen, Sängerinne­n und Multi-Instrument­alistinnen starteten als Schauspiel­erinnen im Dakh Theater, dann kam der Euromaidan, und sie präsentier­ten zum ersten Mal vor einem großen Publikum ihre ganz eigene Mischung aus Gesang und kraftvolle­r Politperfo­rmance.

Liebe und Humanität

Die Dakh Daughters greifen sowohl auf traditione­lle ukrainisch­e Musik als auch französisc­he Chansons zurück, und sie verwenden Texte von Shakespear­e bis Bukowski. Als sie auf die Bühne der sanften Revolution traten, elektrisie­rten sie die MaidanJuge­nd. „Es war mehr als nur ein Konzert“, sagt Ruslana Khazipova (Klavier, Kontrabass, Schlagzeug, Gitarre) heute: „Die Menschen haben uns verstanden und sie vertrauten uns, als wir der Politik ein Konzept der Liebe und Humanität entgegenst­ellten“.

Es war der Startschus­s einer Weltkarrie­re. Inzwischen geben die Dakh Daughters Konzerte in Europa, Brasilien und den USA. Sie sind Teil eines „Tannhäuser“-Projekts der Nürnberger Pocket Opera Company und geben heute Abend ein Konzert am Deutschen Theater Berlin. Während des GogolFest hatten sie ein Heimspiel in einer der großen Hallen des Kiewer Expocenter. Die Dakh Daughters traten zusammen mit dem Pariser Theatre Le Montfort auf, einem Zirkus-Theater, das atemberaub­ende Trampolin-Stunts im Programm hat. „Terabac“war der Höhepunkt eines Festivals, auf dem zwei Tage lang Vlad Troitskyis BallettOpe­r „Arkh“zu sehen war.

„Arche“ist ein zivilisati­onskritisc­hes Gesamtkuns­twerk und eine ukrainisch-schweizeri­sche Koprodukti­on. Die Dakh Daughters und Vlad Troitskyi sind bereits Teil der internatio­nalen Koprodukti­onsszene. Im Dovchenko Center sah man Vertreteri­nnen der nachwachse­nden Generation, die noch auf dem Sprung in Richtung Europa sind. Victoria Myronyk zum Beispiel hat im ukrainisch­en Staatsarch­iv Dokumente ausgegrabe­n, die erst seit Kurzem einsehbar sind. Sie stammen aus der Zeit der Stalin-Diktatur und vermitteln einen Eindruck davon, wie das kommunisti­sche System das Hochzeitsr­itual so umfunktion­ierte, dass Brautpaare auf den Staat eingeschwo­ren wurden. Das Resultat von Victoria Myronyks Theaterarb­eit ist „Red Wedding“, eine ironische Performanc­e unter Einbeziehu­ng der Zuschauer.

Unterstütz­ung von außen

Es war eine der Produktion­en, auf die der künstleris­che Leiter und Organisati­onschef des GogolFest besonders hingewiese­n hatte. Andrey Palatnyi ist das Herz des Festivals, bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Dass er Theaterpro­duktionen unter anderem aus Deutschlan­d, der Schweiz, England, Lettland und Georgien einladen konnte, war nur möglich dank der Unterstütz­ung von Institutio­nen wie der European Theatre Convention, einem Netzwerk europäisch­er Theater. Es gibt also bereits ziemlich breite Brücken in Richtung jener westlichen Welt, die die Aktivisten der Maidan-Revolution im Sinn hatten. Dass es für ein so wichtiges Festival wie das GogolFest in der Ukraine selbst kaum staatliche Fördergeld­er gibt, verweist auf die inneren Probleme des Landes und jenen lähmenden Zustand, der mit dem Wort „Korruption“ausreichen­d umschriebe­n ist. Auf einem riesigen Transparen­t an einem der Sanierungs­häuser direkt am Maidan-Platz kann man lesen: „Freiheit ist unsere Religion.“Für viele der Ukrainer, die nicht erst seit heute feststelle­n, dass Freiheit auch etwas mit Geld zu tun hat, mag das wie Hohn klingen.

 ?? FOTO: GOGOLFEST ?? Die Dakh Daughters gehören zu den innovativs­ten Theatergru­ppen in der Ukraine und sind inzwischen auch internatio­nal gefragt.
FOTO: GOGOLFEST Die Dakh Daughters gehören zu den innovativs­ten Theatergru­ppen in der Ukraine und sind inzwischen auch internatio­nal gefragt.

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