Der 500. Jahrestag der Reformation
Die Theologin Margot Käßmann zum Reformationsjubiläum
Die Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Reformation nähern sich ihrem Ende. Den Abschluss bildet am Reformationstag ein Festgottesdienst in der Wittenberger Schlosskirche. Mit dem Anschlag der 95 Thesen durch Martin Luther – unser Foto zeigt den Reformator als Fensterbild in der Evangelischen Stadtkirche Ravensburg – wurde dort vor 500 Jahren die Spaltung der christlichen Kirche eingeleitet. Warum Margot Käßmann, die Luther-Beauftragte der Evangelischen Kirche, im Gegensatz zum katholischen Kardinal Reinhard Marx an dieser Trennung festhalten will, lesen Sie in unserem Interview. Ob sich ein Besuch der Mannheimer Ausstellung „Reformation! Der Südwesten und Europa“lohnt, erfahren Sie in der Kultur.
Mit dem Reformationstag am 31. Oktober 2017 neigt sich die Lutherdekade ihrem Ende zu. In verschiedenen Themenjahren wurden die Folgen des Thesenanschlags vor 500 Jahren in Wittenberg durch Martin Luther beleuchtet. Vor fünf Jahren übernahm die bekannte Theologin Margot Käßmann das Amt als Lutherbeauftragte. Im Interview mit Barbara Waldvogel blickt sie auf Ereignisse und Aktionen vor allem im jetzt zu Ende gehenden Jahr zurück.
Die Lutherdekade geht zu Ende. Ein zehnjähriger Marathon an Veranstaltungen liegt hinter den Verantwortlichen in Kirche und Staat. Sie waren fünf Jahre lang Botschafterin des Reformationsjubiläums. Was würden Sie sagen: Ist man jetzt Luther-satt?
Ich auf jeden Fall nicht, weil ich finde, dass Luther und die Reformation so viele Facetten haben, dass wir nur einen Teil aufnehmen konnten. Ich selber habe an Luther auch immer wieder neue Seiten entdeckt. Beispielsweise den Seelsorger Martin Luther, der viel zu selten wirklich wahrgenommen wird.
Für das Reformationsjubiläum wurde mit dem Luther-Logo geworben. Durchaus nachvollziehbar. Schließlich ist er der bekannteste Kopf der Reformation. Aber kann man heute noch mit den theologischen Erkenntnissen des 16. Jahrhunderts christliche Kirche gestalten? Haben Theologen und Gemeinden zum Beispiel nicht ein grundsätzlich anderes Verständnis von Kirche in Gesellschaft und Politik als Luther?
Es ist ganz klar, dass wir Luther nicht einfach 500 Jahre weiterbeamen können. Die mittelalterliche Welt damals und unsere hochtechnisierte Welt heute sind verschieden. Aber die Grundfragen des Menschen bleiben. Wie findet mein Leben Sinn? Wie wird es gerechtfertigt? Auch Grundlagen des Glaubens bleiben für die evangelischen Christen die gleichen: dass die Bibel im Zentrum steht; dass Jesus Christus im Zentrum steht; dass nicht die Kirche Sünden vergibt, sondern Gott allein – das sind weitere Kennzeichen unserer Kirche. Es ist also vieles geblieben, aber natürlich muss sich die Kirche der Reformation beständig erneuern. Das hat Luther übrigens selbst gesagt.
Wie hat sich ganz allgemein die Sichtweise auf den Reformator verändert im Vergleich zu den Lutherjubiläen in den vergangenen Jahrhunderten?
Was sich ganz deutlich verändert hat, ist die Wahrnehmung der Reformation als Gesamtgeschehen. Die Tschechen waren dieses Jahr ganz stark beteiligt, weil klar ist, dass schon Jan Hus 100 Jahre vor Luther Teil der reformatorischen Bewegung war. Die Schweiz war den ganzen Sommer in einem eigenen Pavillon bei der Weltausstellung in Wittenberg präsent, weil die oberdeutsche Reformation eben auch ein Teil des Geschehens war. Also Reformation als europäisches Ereignis hat sich in diesem Jahr erstmals gespiegelt im Vergleich zu den sehr deutsch-nationalen Feiern 1817 und 1917.
Sind Sie persönlich Luther nähergekommen, oder hat bei Ihnen durch die intensive Beschäftigung mit seiner Vita das Lutherbild ein paar Kratzer abbekommen?
Da muss ich eine doppelte Antwort geben. Zum einen bewundere ich ihn mehr, weil ich das Sprachgenie Luther die letzten Jahre noch einmal bewusst wahrgenommen habe. Wie er gerungen hat, die richtigen Worte für die Übersetzung zu finden, und damit unsere deutsche Sprache schuf, das ist mir im Detail noch einmal klar geworden. Nehmen wir doch nur einmal das Wort Lückenbüßer. Auf so ein Wort muss man erst einmal kommen. Oder Geizhals. Er hat darum gerungen, wirklich die Bibel zu dolmetschen. Das finde ich faszinierend, weil das ja auch heute die Aufgabe ist, den Glauben in unseein re Zeit zu dolmetschen. Zum anderen sind mir natürlich gerade das Ausmaß seines Antijudaismus und die damit verbundene gewalttätige Sprache mit großem Schrecken noch einmal bewusst geworden.
Thema Antijudaismus. Haben Sie das Gefühl, dass gerade dieser Teil von Luthers Biografie lustvoll aufgegriffen wurde, um ihn vom Sockel zu stoßen?
Das ist ambivalent. Zum einen bin ich sehr froh, dass wir es deutlich thematisiert haben und dass sich die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland klar von Luthers Judenschriften distanziert hat. Das war wichtig. Zum anderen wird es natürlich gerne benutzt, um Evangelische Kirche und Luther insgesamt zu kritisieren. Und da müssen wir sagen, nicht nur Luther war Antijudaist, sondern zum Beispiel auch der Philosoph Erasmus von Rotterdam.
Wie würden Sie die Rolle Martin Luthers im Bauernkrieg beschreiben?
Luther selbst hatte ja zum Lebensende gezweifelt, ob er sich richtig verhalten hatte. Zuerst schlug er sich auf die Seite der Bauern. Aus großer Angst vor chaotischen Zuständen erklärte er aber dann den Fürsten, sie könnten zu Recht mit Gewalt dreinschlagen. Das bleibt als Schatten über der Reformation. Weil die Bauern seinen Freiheitsruf sehr klar auch als Ruf zur individuellen Freiheit verstanden. Und ich denke, in der Konsequenz auch zu Recht.
Thema individuelle Freiheit. Wird sie heute nicht fast schon überstrapaziert? Welche Vorstellung von der Freiheit eines Christenmenschen hatte Luther?
Freiheit als pure Egomanie und purer Individualismus war nicht Luthers Idee. „Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem Untertan“, formulierte er. Das stimmt. Aber der zweite Satz lautet eben: „Der Christenmensch ist dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“Die Freiheit ist immer eine Freiheit mit den anderen oder auch eine Freiheit für die anderen und für die Gemeinschaft. Luther hat eine Verpflichtung des Menschen gesehen, seine Gaben einzubringen für die Gesellschaft. Dabei betonte er, dass die Gabe der Magd, die den Besen schwingt, genauso wichtig ist, wie die Gabe des Fürsten, der das Land regiert. Jeder Mensch hat für Luther eine Berufung und damit einen Beruf. Es geht also nicht nur um mich persönlich. Es gibt wunderbare Sätze von Luther gegen die Faulheit. So sagte er einmal: „Wir können nicht erwarten, dass uns ein gebratenes Huhn ins Maul fliegt.“Auf der anderen Seite hat er eben auch das betont, was wir heute Subsidiarität nennen. Wenn du für dich selbst sorgen kannst, dann sorge für dich selbst. Aber du hast auch die Verpflichtung, für die Gemeinschaft einzutreten. Ich finde das sehr anschaulich in der ersten Ordnung für den „Gemeinen Kasten“geregelt. Dabei wird klar: Du gibst jetzt nicht Almosen, weil du dich selbst erhöhen willst oder damit dir Sünden erlassen werden, sondern du gibst, wenn du kannst, aus Verpflichtung für die Gemeinschaft. Wer nicht für sich sorgen kann, der wird von der Gemeinschaft versorgt – und deshalb wird das Betteln abgeschafft. Das finde ich doch sehr schön. Das Betteln wird verboten, weil jeder Mensch so versorgt wird, dass er nicht betteln muss. Das ist eine sehr soziale Komponente. Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich durch Berlin gehe und Menschen betteln sehe.
Was waren aus Ihrer Sicht die Höhepunkte im Amt als Luther-Beauftragte?
Höhepunkt für mich persönlich waren die 16 Wochen „Weltausstellung Reformation“in diesem Sommer in Wittenberg. Ich war jede Woche mehrere Tage in Wittenberg. Mich hat begeistert, dass so viele Menschen aus aller Welt gekommen sind, dass Katholiken, Reformierte, Baptisten, Mennoniten auch engagiert waren, dass aus ganz Deutschland Ehrenamtliche die Pavillons gestaltet haben. 15 000 Konfirmanden und Konfirmandinnen waren da, 4 200 Pfadfinder und Pfadfinderinnen – das fand ich sehr beglückend, weil es die Lebendigkeit unserer Kirche, die Vielfalt und Experimentierfreude gezeigt hat.
Aber es heißt doch, dass man mit mehr Besuchern gerechnet hätte. Stimmt das nicht?
Also für mich waren mit einer halben Million genug Besucher da. An Zahlspielen habe ich mich nie beteiligt. Und ich denke, die halbe Million Menschen, die da war, war begeistert.
Im Schweizer Pavillon war eine Druckerei installiert. Reformation ohne Buchdruck geht ja gar nicht. Wie weit ist die Druckerei gekommen?
Das war auch eine Erinnerung daran, dass ohne den Buchdruck die Ideen der Reformation im 16. Jahrhundert nicht so schnell hätten verbreitet werden können. Die Schweizer haben es tatsächlich geschafft, das Neue Testament zusammen mit den Besuchern zu drucken. Es konnte am Ende der Ausstellung überreicht werden. Es ist sehr schön geworden.
Gab es auch Tiefpunkte?
Ein schlimmes Erlebnis war, als eine 25-jährige Kolumbianerin, die Freiwilligendienst in Wittenberg geleistet hatte, bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kam. Ich musste am nächsten Morgen eine Andacht für die jungen Leute halten. Das war für mich im Rückblick der schwerste Tag.
Staat und Kirche haben für dieses Reformationsjubiläum in verschiedenen Gremien teilweise erfolgreich zusammengearbeitet. Der Reformationstag wurde sogar zum einmaligen staatlichen Feiertag ausgerufen. Ist so viel Nähe zwischen Staat und Kirche heute noch vertretbar?
Das denke ich schon. Unser Land ist christlich geprägt. Es gibt eine Trennung von Staat und Kirche. Die Kirche wird dem Staat nicht unmittelbar hineinreden und der Staat nicht in die Kirchenleitungen. Allerdings hört der Staat das Votum der Kirche, zum Beispiel zu großen ethischen Fragen. Das finde ich auch gerechtfertigt. Außerdem haben wir ja auch Konflikte. Zum Beispiel beim Thema Kirchenasyl oder in der Flüchtlingsfrage. Ich denke, es besteht ein angemessenes Verhältnis von Distanz und Nähe. Der Bundestag hat ja 2011 einstimmig gesagt, beim Reformationsjubiläum handele es sich nicht allein um ein kirchliches Ereignis, sondern um ein kulturhistorisches Ereignis, das nicht nur Bedeutung für Deutschland, sondern für Europa hat. Und das ist in der Tat so.
Mit den Bundespräsidenten Gauck und jetzt Steinmeier sowie Bundeskanzlerin Merkel fanden sich Politiker an der Spitze des Staates, die mit der Kirche verbunden sind. Werden diese Verbindungen auch die Zukunft prägen?
Das wird sich sicher auch verändern. Weil wir zunehmend Säkularisierung erkennen und mehr Menschen politische Verantwortung übernehmen, die nicht kirchlich verbunden sind. Damit müssen wir in Zukunft rechnen. Trotzdem denke ich, auch wenn unsere Kirchen zahlenmäßig kleiner werden, werden sie doch Bedeutung haben in diesem Land, weil sie vom christlichen Glauben sprechen, Tradition und Gemeinschaft wahren und als öffentliche Stimme zu Frieden und Gerechtigkeit mahnen. Das war selbst der Fall bei der Kirche in der DDR in einer Minderheiten- und Unterdrückungssituation.
Thema Ökumene: Vor dem Reformationsjahr 2017 gab es Stimmen aus der katholischen Kirche, die allenfalls ein Gedenken begehen, aber kein Jubiläum feiern wollten. Was ist nun passiert? Wurde ökumenisch gedacht oder ökumenisch gefeiert?
Es wurde meines Erachtens ökumenisch gefeiert. Feiern heißt ja nicht, immer nur lustig auf dem Tisch zu tanzen. Wir haben auch Feiern zum Nationalfeiertag am 3. Oktober, wo Inhalte im Vordergrund stehen. Und wir haben auch inhaltlich miteinander gearbeitet. Kardinal Walter Kasper hat gesagt, das Jahr 2017 war ein Kairos der Ökumene. Das heißt für mich aber nicht, dass die Unterschiede eingeebnet werden. Wir haben auch gefragt: „Was heißt evangelisch sein?“Für Protestanten zeigt das Papstamt ein anderes Modell von Kirche. Die Ehe ist für uns kein Sakrament. Die Heiligen haben bei uns eine andere Rolle. Wir ordinieren Frauen in alle Ämter. Die Unter- schiede können von mir aus bleiben, aber es muss klar sein: Es verbindet uns mehr als uns trennt. Ich denke, das war in diesem Jahr schon sehr deutlich. Oberschwaben hat vermutlich Geschichte geschrieben. In Ravensburg wurde nach einem zweijährigen Kommunikationsprozess unter dem Thema „Vom Trennen zum Teilen“, initiiert von der katholischen Seite, am 8. Oktober die Ravensburger Erklärung verabschiedet – unterzeichnet vom katholischen und evangelischen Pfarrer, vom Oberbürgermeister und vielen weiteren Bürgern. Darin wird ausdrücklich zum Abendmahl eingeladen – auch von katholischer Seite. Ist dieses ein einmaliges mutiges Beispiel von eucharistischer Gastfreundschaft, oder kennen Sie weitere Beispiele dieser Art? Ich kenne weitere Beispiele, die aber nicht so öffentlich sind. Das Ravensburger Beispiel finde ich sehr gut, mutig und richtig. Denn eucharistische Gastfreundschaft – das sagen auch katholische Theologen – ist theologisch denkbar. Dass wir uns gegenseitig zur Eucharistie, zum Abendmahl einladen können, das ist ein sichtbares Zeichen, das vielen katholischen und evangelischen Christen wichtig ist.
Wie sind die Perspektiven für die evangelischen Kirchen nach dem 31. Oktober 2017? Kehrt man zurück zum business as usual und damit auch zu den mäßig bis schlecht besuchten Gottesdiensten?
Ich wünsche mir, dass das Reformationsjubiläum eine Ermutigung ist, Spiritualität aufzuwerten, Formen von Gottesdienst zu finden, die Menschen ansprechen. Das haben wir in Wittenberg experimentiert. Abendandacht auf dem Marktplatz, Mittagsgebet mitten in der Öffentlichkeit, aber auch die öffentliche Kaffeetafel in Leipzig, die Tafel in Erfurt, in Ravensburg – das sind neue Modelle, die gut ankommen. Die Einladungen auf öffentlichen Plätzen zu Gesprächen über Gott und die Welt sowie zu kleinen Formen der Andacht schaffen Zugänge zur Kirche, und wir hoffen, dass diese Beispiele auch an anderen Orten Schule machen.
„Freiheit als pure Egomanie und purer Individualismus war nicht Luthers Idee.“Margot Käßmann „Das Reformationsjubiläum 2017 haben wir erstmals weltoffen, international und ökumenisch gefeiert.“Margot Käßmann
Endet Ihr Amt mit dem 31. Oktober 2017?
Nein. Es endet tatsächlich mit meinem Ruhestand am 30. Juni 2018. Durch den Urlaub, der übrig ist, wird der 15. Mai 2018 mein letzter Arbeitstag sein.
Auch danach werden Sie sicherlich eine viel gefragte Frau der evangelischen Kirche sein. Aber welche Erfahrungen nehmen Sie aus Ihrem Amt als Reformationsbeauftragte mit in den bevorstehenden Ruhestand?
Persönlich nehme ich viel Begeisterung mit. Für mich war es großartig mit so vielen jungen Leuten der Generation meiner Kinder zusammenzuarbeiten, die in Wittenberg in der Geschäftsstelle für das Reformationsjubiläum aktiv waren. Es war schön zu erleben, wie viel Begeisterung und Engagement bei den jungen Leuten für unsere Kirche da ist. Da mache ich mir um die Zukunft unserer Kirche doch weniger Sorgen.
Wie lautet Ihr kurzes, prägnantes Fazit zum Reformationsjubiläum?
Das Reformationsjubiläum 2017 haben wir erstmals weltoffen, international und ökumenisch gefeiert. Das zeigt, wie viel Entwicklung in den letzten 100 Jahren möglich war.