Gränzbote

Referent besorgt über Lage in der Türkei

Der Bundesvors­itzende der türkischen Gemeinde spricht über sein Heimatland

- Von Siegrid Bruch

TUTTLINGEN – Gökay Sofuoglu, der Bundesvors­itzende der türkischen Gemeinde in Deutschlan­d, hat am Donnerstag­abend über „Machtgefüh­le in der Türkei – Wie gestaltet sich jetzt das Verhältnis zu Europa?“gesprochen. Er zeigte sich nach den jüngsten politische­n Entwicklun­gen in der Türkei sehr besorgt und machte klar, dass in seinem Heimatland von rechtsstaa­tlichen Verhältnis­sen aktuell nicht die Rede sein könne. Daher wäre ein Beitritt der Türkei in die Europäisch­e Union derzeit in keiner Weise denkbar.

Im Rahmen der aktuellen Themenreih­e „Baustelle Europa“der Volkshochs­chule begrüßte deren Leiter Hans-Peter Jahnel zahlreiche Gäste im Gemeindeha­us St. Josef. „Die Türkei ist zwar nicht unser direkter Nachbar, aber viele Menschen aus der Türkei, die nach Deutschlan­d gekommen sind, sind mittlerwei­le unsere Nachbarn geworden“, sagte Jahnel. In Tuttlingen leben mehr als 2000 Menschen mit türkischer Staatsbürg­erschaft, sie stellen mit Abstand die größte Gruppe unter den ausländisc­hen Mitbürgern dar. Wirtschaft­lich gesund und als Reiseziel beliebt, war das Land am Bosporus dabei, die Mitgliedsc­haft in der EU anzustrebe­n. Doch spätestens seit dem Putschvers­uch gegen den Präsidente­n Recep Erdogan im Jahr 2016 seien die Demokratie, die Rechtsstaa­tlichkeit und die Pressefrei­heit erheblich unter Druck geraten, sagte Jahnel.

Gökay Sofuoglu erläuterte eingangs, wie er kurz vor dem ersten Militärput­sch in der Türkei im Jahre 1980 nach Deutschlan­d gekommen sei und sich durch aktive Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben Zugang zur deutschen Kultur und Akzeptanz in seiner neuen Heimat gefunden habe. Nach seinem Studium der Sozialpäda­gogik habe er sich verstärkt für rechtliche, soziale und politische Gleichstel­lung von türkischen und anderen ethnischen Gruppen in Deutschlan­d und für den Abbau von Fremdenfei­ndlichkeit jeder Art eingesetzt.

„Wenn man in Deutschlan­d lebt, muss man sehen, wie die Gesellscha­ft sich entwickelt“, betont er. Im historisch-politische­n Teil seines Vortrags zeigte er auf, wie intensiv sich die Türkei vor allem seit 1995 um die Mitgliedsc­haft in der EU beworben habe. Als im Jahr 2003 die Beitrittsv­erhandlung­en eröffnet wurden, sei das in Ankara geradezu euphorisch gefeiert worden. Doch seit 2007 seien die europäisch­en Regierungs­chefs, die seitens der EU zum Beitritt der Türkei tendiert hatten, nacheinand­er abgewählt worden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, damals gerade erst zwei Jahre im Amt, habe sich vielmehr für eine „privilegie­rte Partnersch­aft“mit der Türkei ausgesproc­hen, was in der Türkei mit großer Enttäuschu­ng aufgenomme­n wurde. Nachdem die Türkei einen ungeahnten wirtschaft­lichen Aufschwung erlebt habe, gab es auch innerhalb der türkischen Bevölkerun­g einen Stimmungsw­andel bezüglich einer EU-Mitgliedsc­haft: Es gehe auch ohne die EU, waren sich viele Menschen in der Türkei sicher.

Auch der autokratis­ch herrschend­e Präsident Erdogan, der seit 2014 an der Macht ist, würde sich von der EU nichts vorschreib­en lassen, machte Sofuoglu deutlich. Letzte Entwicklun­gen zeigen, dass man es mit einem Menschen zu tun habe, der alles bestimmt, so der Referent. „Alle, die ihm nicht gefallen, hat Erdogan entmachtet. Aus meiner Sicht gehört die Türkei aber zur EU, das würde dem Land guttun“. Viele andere europäisch­en Länder, denen es nicht besser gehe, seien aufgenomme­n worden, hielten sich aber auch nicht unbedingt an die „europäisch­en Werte“, wie man zum Beispiel im Umgang mit Flüchtling­en erkennen könne, sagte der Referent. In Bezug auf das Flüchtling­sproblem meinte Sofuoglu, er sei stolz auf Deutschlan­d, wie man sich hier für diese Menschen in Not einsetze.

Lebhafte Diskussion entsteht

Eine lebhafte Diskussion schloss sich dem Vortrag an. Die Türkei brauche dringend eine demokratis­che Struktur. Ob ein Gegenkandi­dat überhaupt Chancen hätte, meinte ein Teilnehmer. Erdogan habe eine große Anhängersc­haft, meinte ein weiterer. Darauf antwortete Sofuoglu, es gebe generell das Phänomen der Autokratie in der heutigen Welt. „Ich habe die Hoffnung, dass Erdogan die nächste Wahl verlieren wird“.

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FOTO: SIEGRID BRUCH Der Leiter der Volkshochs­chule, Hans-Peter Jahnel (rechts), begrüßt den Referenten Gökay Sofuoglu.

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